Die allermeisten Migrationsbewegungen finden allerdings nicht in Richtung Europa, sondern innerhalb Afrikas und dabei vor allem innerhalb der afrikanischen Regionen statt. Die Hauptherkunftsregionen irregulärer Migrantinnen und Migranten nach Europa, Westafrika und das Horn von Afrika weisen dabei die höchsten Anteile intraregionaler Migration auf. Dies ist bedingt durch (vor-)koloniale Handels- und kulturelle Beziehungen sowie starke wirtschaftliche und politische Unterschiede zwischen den Ländern. Dabei kommt es zu einem – auch entwicklungspolitisch relevanten – Austausch von Waren, Geld, Dienstleistungen und Know-how. Wie aber geht Afrika mit seiner intraregionalen Migration um? Die Einführung von Personenfreizügigkeit im europäischen Schengen-Raum gründete auf zu erwartendem wirtschafts- und sozialpolitischen Nutzen: Was aber sind die Motive zur Liberalisierung von Mobilität in Afrika? Wie wirkt sich die derzeitige europäische Fokussierung auf Migrationskontrolle auf Freizügigkeit und intraregionale Migration in Afrika aus?
regionale Freizügigkeit in Afrika
Die Vision eines geeinten Afrikas, das die von den europäischen Kolonialmächten größtenteils willkürlich gezogenen Staatsgrenzen auf dem Kontinent überwindet, ist alles andere als neu. Schon zu Beginn der Dekolonialisierung vor über sechs Jahrzehnten war sie ein integraler Bestandteil panafrikanischer Bemühungen. Die vor sechs Jahren verabschiedete Agenda 2063 der Afrikanischen Union (AU) macht kontinentale Freizügigkeit zu einem Ziel der sozioökonomischen Entwicklung Afrikas. Den afrikanischen Regionen beziehungsweise den Regionalorganisationen soll eine zentrale Rolle bei der Umsetzung dieser Freizügigkeit zukommen.
Die Economic Community of West African States (ECOWAS) kann mit ihrem Free Movement Protocol von 1979 – also sechs Jahre vor dem ersten Schengen-Abkommen – als wahrer Pionier in dieser Hinsicht betrachtet werden. Das Protokoll sollte in drei Phasen umgesetzt werden. Die erste Phase sieht die visumsfreie Einreise und Aufenthalt bis zu 90 Tagen von ECOWAS-Staatsbürgern in jeweils anderen Mitgliedsstaaten der Regionalgemeinschaft vor. Sie gilt seit Mitte der 1980er-Jahre als umgesetzt. Auch die zweite Phase (das Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat – etwa zu Arbeitszwecken) trat schließlich 1986 in Kraft. Die dritte Phase des Protokolls (das Recht auf Niederlassung, etwa zur Gründung einer selbstständigen Tätigkeit beziehungsweise eines Unternehmens) sollte ursprünglich bereits in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre realisiert werden. Die Umsetzung der zweiten und insbesondere der dritten Phase gestaltet sich jedoch als schwierig. Im Zuge wiederkehrender Wirtschaftskrisen in mehreren ECOWAS-Ländern kam es zu Ausweisungen von Menschen mit Staatsbürgerschaften anderer Länder der Wirtschaftsgemeinschaft. Die größte Ausweisung dieser Art von über einer Million Migrantinnen und Migranten, vorwiegend aus Ghana, geschah 1983 in Nigeria. Auch die Umsetzung des Freizügigkeitsprotokolls auf nationaler Ebene sowie seine Nutzung durch die Bürgerinnen und Bürger der ECOWAS-Zone ist nicht zufriedenstellend. So sind Grenzkontrollen nach wie vor Standard, und ein Großteil der Menschen ist nicht im Besitz eines ECOWAS-Reisedokumentes.
Die Intergovernmental Authority on Development (IGAD)-Region in Nordostafrika hat im Gegensatz zu ECOWAS noch kein Freizügigkeitsabkommen etabliert. Die Einführung von Personenfreizügigkeit ist Teil der Zielsetzung zweier wichtiger migrationspolitischer Rahmenabkommen der IGAD (des Regional Migration Policy Framework von 2012 sowie des Regional Migration Action Plan von 2013). Bislang konnten jedoch auf Ebene der Gesamtregion kaum konkrete Fortschritte in Richtung einer regionalen Gesetzgebung erzielt werden. Es existieren bislang lediglich Abkommen zur visumsfreien Einreise zwischen einzelnen Mitgliedstaaten, zum Beispiel zwischen Äthiopien und Kenia sowie auch für Kenia und Uganda. Das Migrationsprogramm von IGAD koordiniert darüber hinaus seit 2017 aus dem EUTF finanzierte Konferenzen in jedem seiner Mitgliedsstaaten; diese sollen einer regionalen Freizügigkeitsregelung den Weg bereiten.
Die Notwendigkeit harmonisierter Maßnahmen
Die sehr unterschiedlichen Fortschritte der regionalen Freizügigkeitsagenden von ECOWAS und IGAD haben historische wie politisch-institutionelle Gründe: ECOWAS wurde mit dem Ziel der Förderung regionaler Wirtschafts- und Handelsintegration gegründet; die Liberalisierung von Mobilität bildete einen integralen Bestandteil dessen. Zur Umsetzung dieser von allen Mitgliedern getragenen Ziele statteten diese ECOWAS mit relativ starken supranationalen Organen aus. Bei IGAD ging es primär um eine (aus der Not geborene) zwischenstaatliche Kooperation zur Eindämmung humanitärer Katastrophen wie Hunger, Dürre und gewaltsamen Konflikten, die bis heute die Region kennzeichnen. Flucht und Migration wurden in diesem Zusammenhang in erster Linie als unerwünschte Nebeneffekte betrachtet. Die intergouvernementale Ausrichtung der IGAD und zuwiderlaufende Interessen einzelner Mitgliedsstaaten erschwerten eine vertiefte Integration. So erwies sich vor allem Äthiopien bislang als (mächtiger) Gegner regionaler Wirtschaftsliberalisierung, teils zum Schutz eigener Märkte, teils vor dem Hintergrund des seit den 1990er-Jahren währenden Konfliktes mit Eritrea.
In den letzten Jahren hemmte zudem die migrationspolitische Einflussnahme der EU die Freizügigkeitsbemühungen in beiden Regionalorganisationen, die stark von Mitteln internationaler Geber abhängen. Da sich gerade die EU auf ein effektiveres Grenzmanagement konzentriert, läuft dies einer Liberalisierung von Mobilität offenkundig zuwider. Eine Harmonisierung von Maßnahmen, die auf die Unterbindung von irregulärer Migration abzielen, und Maßnahmen, die Freizügigkeit und intraregionale Mobilität fördern, wäre aber notwendig. Nur so können Freizügigkeit und die damit verbundenen Entwicklungspotenziale besser genutzt werden. Für Entwicklungsländer bedeutet dies nicht nur mehr Austausch von Waren, Geld und Wissen, sondern potenziell auch höhere private Bildungs- oder Gesundheitsausgaben und solidere Systeme sozialer Sicherung. Um dies zu erreichen, müssen afrikanische Regionalorganisationen bei der Formulierung und Implementierung von Freizügigkeitsregimen finanziell als auch personell unterstützt werden. Im Falle historisch und institutionell begründeter Barrieren (wie im IGAD-Kontext) sollten Gelegenheiten für mehr Freizügigkeit beziehungsweise regionale Integration erkannt und genutzt werden. Die politische Öffnung Äthiopiens, die sich in der Freilassung von politischen Häftlingen und einem Friedensvertrag mit Eritrea im Juli 2018 widerspiegelt, ist eine davon.
Über die Autoren:
Benjamin Schraven ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und arbeitet zu Fluchtursachen, Klimamigration und der Governance von Migration.
Eva Dick ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und arbeitet zu Migrationsgovernance und Urbanisierung.