Deutsches Institut für Entwicklungspolitik Existenzsichernde Löhne in globalen Wertschöpfungsketten

Der zunehmenden sozialen Spaltung entgegenzuwirken, ist eine Menschheitsaufgabe. Ein möglicher Ansatzpunkt liegt in der entwicklungsverträglichen Gestaltung von globalen Wertschöpfungsketten. Das Konzept wurde in den 1990er-Jahren entwickelt, um neue Formen internationaler Arbeitsteilung abzubilden. Vorprodukte, Güter und Dienstleistungen werden immer weniger auf abstrakten Märkten gehandelt, sondern fließen entlang langfristig stabiler Lieferketten. Diese Ketten werden in den meisten Fällen von Firmen des Globalen Nordens dominiert. Sie haben die nötige Marktmacht, um zu bestimmen, was, wann und wie produziert wird. Dies geht über technische und betriebswirtschaftliche Aspekte hinaus. Die Firmen im Globalen Norden stehen unter Druck, ihre Sorgfaltspflicht für die Einhaltung von Menschenrechten entlang der von ihnen kontrollierten Lieferketten wahrzunehmen. Zu den kodifizierten Menschenrechten gehört das Recht auf ein existenzsicherndes Einkommen (Artikel 23.3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948). Auch schon der Begründer der klassischen Nationalökonomie, Adam Smith, forderte vor fast 250 Jahren eine existenzsichernde Entlohnung der arbeitenden Menschen:

„Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muss mindestens so hoch sein, dass er davon existieren kann. Meistens muss er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen (...)“. („Der Wohlstand der Nationen“, 1776)

Bis heute werden in der Exportwirtschaft des Globalen Südens meist Löhne gezahlt, die weit unter dem liegen, was zur angemessenen Bedürfnisbefriedigung der Beschäftigten und ihrer Familien notwendig wäre. Die Zivilgesellschaft läuft dagegen seit vielen Jahren Sturm. Entsprechende Forderungen wurden in Initiativen, wie dem Textilbündnis in Deutschland, aufgegriffen. Einzelne Firmen sehen in ihren Verhaltenskodexen vor, die Zahlung existenzsichernder Löhne bei ihren Lieferanten durchzusetzen. Führende deutsche Einzelhandelsfirmen haben jüngst vereinbart, dies zunächst bei ihren Eigenmarken verbindlich vorzuschreiben. Damit steht die Umsetzung von existenzsichernden Löhnen konkret auf der Tagesordnung, was zweifellos zu begrüßen ist. Aus entwicklungspolitischer Sicht sind einige Fragen allerdings noch nicht hinreichend untersucht:

Wie definieren wir existenzsichernde Löhne? Vorhandene Definitionen (zum Beispiel die der Global Living Wage Coalition) legen fest, dass der Lohn einen angemessenen Unterhalt für die Beschäftigten inklusive ihrer Familien sicherstellt. Die ermittelte Lohnhöhe liegt weit oberhalb der aktuell gezahlten Gehälter und nationaler Mindestlöhne. Für Indonesien wurde der existenzsichernde Lohn 2018 mit 363 Euro monatlich berechnet, der Durchschnittslohn in der verarbeitenden Industrie lag dort bei 160 Euro. Existenzsichernde Löhne einzuhalten bedeutet also keine inkrementelle Anpassung, sondern einen radikalen Wandel in der Lieferkette, was die kurzfristige Umsetzung erschwert. Bisherige Erfahrungen mit ethisch differenzierten Produkten lassen vermuten, dass die Verbraucher nur begrenzt bereit sind, einen Mehrpreis zu zahlen, um die Umsetzung eines existenzsichernden Einkommens im Globalen Süden zu ermöglichen.

Mögliche Zielkonflikte

Wie wirkt sich die Einführung existenzsichernder Löhne auf die internationale Arbeitsteilung aus? Die Lohnhöhe ist ein wichtiger Faktor für die Entscheidung, wo ein Unternehmen fertigen lässt. Je nach Land und Sektor kommen andere Faktoren hinzu, wie Infrastruktur und Lieferzeiten, zivile Sicherheit, Bürokratie und Korruption. Wie sich die Lohnhöhe in diesem Bündel von Standortfaktoren auswirkt, ist nicht hinreichend erforscht. Klar ist, dass einzelne Länder dann Standortnachteile erleiden, wenn sie einseitig einen Mindestlohn einführen. Regionale Ansätze wie der Asian Floor Wage, bei dem eine regionale Untergrenze für die Löhne in der asiatischen Bekleidungsindustrie gezogen werden soll, weisen hier einen möglichen Weg.

Unklar ist auch, wie sich existenzsichernde Löhne auf die Zugangsmöglichkeiten von kleineren Unternehmen zu internationalen Lieferketten auswirken. Schon heute zahlen große und hoch effiziente Unternehmen teilweise Löhne oberhalb des in der Branche üblichen Niveaus, zum Beispiel um erfahrene und motivierte Arbeitskräfte zu binden. Diese großen Unternehmen wären oft auch in der Lage, einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, während kleinere Unternehmen tendenziell aus den Lieferketten gedrängt werden dürften.

Viele Wertschöpfungsschritte in arbeitsintensiven Industrien sind bislang kaum automatisierbar, wie zum Beispiel das Nähen von Bekleidung. Die technischen Voraussetzungen verändern sich jedoch rasch. Wenn die Lohnkosten deutlich steigen, besteht das Risiko, dass Unternehmen stärker auf den Ersatz menschlicher Arbeit durch Maschinen und künstliche Intelligenz setzen. Diese aufgeworfenen Fragen sind keine Argumente gegen existenzsichernde Löhne in den Globalen Wertschöpfungsketten; aber sie zeigen mögliche Zielkonflikte auf. Alternativen und komplementäre Maßnahmen sollten daher ebenfalls geprüft werden. Im Sinne der Globalen Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen sollten die Regierungen der Produktionsländer stärker in die Pflicht genommen werden, sich selbst um die angemessene Ausgestaltung von nationalen Mindestlöhnen und ihre Kontrolle zu bemühen. Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften können die spezifischen Interessen der Beschäftigten geltend machen, die neben der Lohnhöhe zum Beispiel Arbeitszeitregelungen, Kündigungsschutz und soziale Absicherung umfassen.

Schließlich kann die globale Gerechtigkeitsagenda nicht nur an der Industriearbeit ansetzen, sondern muss auch existenzsichernde Preise für landwirtschaftliche Produkte umfassen. Bis heute sind agrarbasierte Lieferketten ein Kernstück des Süd-Nord-Handels, von angemessenen Preisen hängt die Existenz von vielen Millionen Familien ab.

 

Über den Autor:

Dr. Andreas Stamm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprogramm „Transformation der Wirtschafts- und Sozialsysteme“ am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).