Der Botschafter von Kanada war in seiner Heimat u.a. “Minister für die Nationale Einheit”. Im Gespräch mit dem Diplomatischen Magazin erzählt er von seinen Erfahrungen und unter welchen Voraussetzungen Integration gelingt.
DM: Welche politischen Erfahrungen verbinden Sie mit dem Wort Heimat?
S.E. Stéphane Dion: Als ich 1996 in die Politik kam, war ich Minister für die nationale Einheit meines Landes. In meiner Provinz Québec wollten sich viele Menschen von Kanada trennen. Wie viele andere dachte ich, dass es besser ist Quebecer und Kanadier zu sein, anstatt sich zwischen diesen beiden wunderbaren Identitäten entscheiden zu müssen. Meine Heimat ist Quebec, daran gibt es keinen Zweifel, aber mein Land ist Kanada. Das ist ein großes Glück!
Die Frage in Kanada war: Ist es möglich, verschiedene Identitäten zu haben und diese Identitäten als komplementär und nicht als Widerspruch zu betrachten? Ist es möglich, Quebecer und Kanadier zu sein und diese beiden Identitäten als Bereicherung und nicht als Widerspruch zu sehen? Es als etwas Wunderbares anzusehen, mehrere Identitäten zu haben? Genau das ist die Welt von morgen. Vielfalt ist eine Realität in Kanada, sie ist eine Realität in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern. Wenn Vielfalt eine Realität ist, wie können wir sie zu einer Stärke und nicht zu einem Problem machen?
DM: Und wie können wir sie zu einer Stärke machen?
S.E. Stéphane Dion: Zunächst einmal müssen wir erkennen, dass dies der einzige Weg ist, um voranzukommen: Eine nationale Identität ist kein starres, für immer eingefrorenes Konzept. Es ist nicht so, dass man, sagen wir, von Geburt an Deutscher ist oder nicht. Wenn wir diese Mentalität haben, wie können wir dann die Vielfalt der Welt integrieren? Vielfalt ist der einzige Weg, auf dem wir erfolgreich sein werden. Vielfalt ist eine Tatsache, und Integration ist eine Entscheidung, und zwar die richtige Entscheidung, wie Premierminister Justin Trudeau immer sagt. Ohne Integration haben wir keine Zukunft, insbesondere im so vielfältigen Kanada.
Neuankömmlinge, die nach Deutschland kommen, haben, sobald sie Deutsche sind, die Möglichkeit, die deutsche Kultur, deutsche Literatur, deutsche Musik anzunehmen, sie sollten das Gefühl haben, dass Beethoven, Goethe oder Kant jetzt genauso Teil ihres Erbes sind, als ob ihre Vorfahren seit Jahrhunderten aus Deutschland stammten. Darüber hinaus bringen sie etwas Neues nach Deutschland mit, etwas Universelles, das aus einem anderen Teil der Welt kommt. Und die Deutschen haben die Chance zu lernen, dass diese Aspekte, die die Neuankömmlinge ins Land bringen, großartig sind. Gegenseitige Bereicherung statt Misstrauen – darum geht es. Voneinander zu lernen, das ist für mich der wichtigste Punkt.
DM: Wie überzeugen Sie Kritiker und Gegner dieses Konzeptes?
S.E. Stéphane Dion: Ein offener Dialog ist notwendig und eine Annäherung von beiden Seiten. Die Menschen im Land müssen aufgeschlossen sein, und die Menschen, die in das Land kommen, müssen auch offen dafür sein, dass das Land sie verändern kann. Sie kommen mit ihren Wurzeln, aber sie müssen sich auf das neue Land einlassen. Wir wollen keine in sich geschlossenen Gemeinschaften, wir wollen aber eine Gesellschaft, die durch Vielfalt bereichert wird. Nur so kann Kanada eine Zukunft haben. Es gibt heute sehr viele Neuankömmlinge in Kanada. In einer Stadt wie Toronto sind vier von fünf Einwohnern Einwanderer, aus der ersten oder zweiten Generation. Und es funktioniert. Aber es ist eine tägliche Herausforderung.
DM: Ist das eine Daueraufgabe? Müssen Politiker kontinuierlich für dieses Denken sensibilisieren?
S.E. Stéphane Dion: Ja. Als Abgeordneter war das meine tägliche Aufgabe. Ich war Parlamentsabgeordneter in einem Bezirk auf der Insel Montréal, der Saint-Laurent-Cartierville heißt und eine Art “Vereinte Nationen” darstellt. Die Menschen kommen von überall her, aus der ganzen Welt. Und meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass jeder versteht, dass wir in Quebec und in Kanada sind und dass wir uns anpassen und einander willkommen heißen und in sich geschlossene Gemeinschaften vermeiden müssen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eines Tages wurde die Bibliothek einer der jüdischen Gemeinden von Saint-Laurent von Kriminellen angezündet. Wir organisierten sofort eine „Mahnwache“ und ich lud alle Leiter der Gemeinden von Saint-Laurent ein, natürlich auch die Leiter der Gemeinden, die aus dem Nahen Osten nach Kanada eingewandert waren und die Schwierigkeiten mit Israel haben.
Und ich sagte, dass man in anderen Teilen der Welt vielleicht anderer Meinung ist, aber in Kanada sind wir alle Brüder und Schwestern, und wenn eine Gemeinde angegriffen wird, sind wir da und zeigen unsere Solidarität. Ich habe jeden von ihnen angerufen und gesagt: Wenn du mein Freund bist, werde ich dich dort sehen, um die jüdische Gemeinschaft zu unterstützen. Und sie kamen. Sie wären nicht gekommen, wenn ich sie nicht angerufen hätte.
Es ist ein sehr anspruchsvoller Job. Meine Frau wird Ihnen sagen, dass sie in 22 Jahren als Abgeordneter die Wochenenden, an denen ich frei hatte, an den Fingern abzählen kann. Um sicherzustellen, dass die Menschen wirklich aufeinander zugehen, muss man ihnen sagen: In anderen Teilen der Welt seid ihr vielleicht nicht einer Meinung, aber hier in Kanada stehen wir alle zusammen, Schulter an Schulter, und das ist der Weg, auf dem das Land eine Zukunft haben wird. Es ist nicht leicht, das zu tun, aber es ist sehr notwendig!
DM: Seit 4 Jahren leben Sie in Deutschland. Fühlen Sie sich in Berlin ein wenig zu Hause oder ist das Land für Sie noch fremd?
S.E. Stéphane Dion: Nicht fremd genug (lacht). Kanadier und Deutsche haben viel gemeinsam. Einer von zehn Kanadiern hat einen deutschen Hintergrund. Die Mentalität ist nicht sehr verschieden, allerdings ist die Geschichte der beiden Länder sehr unterschiedlich. Ich glaube nicht, dass es für einen Kanadier schwer ist, sich an Deutschland zu gewöhnen und sich in diesem spannenden Land wohlzufühlen, außer vielleicht wegen der Schwierigkeit, die Sprache zu lernen, und wegen etwas anderem: Winter ohne Schnee! Das ist sehr schwierig für einen Kanadier. Dunkle Monate, in denen man keine Sonne hat. Aber keinen weißen Schnee, der die fehlende Sonne kompensiert.
Interview Marie Wildermann