Interview„Erneuerbare Energien sind der Schlüssel“

Nach der russischen Invasion der Ukraine stellen sich auch für die Energiepolitik der EU neue Fragen. Über die zentralen Strategien der EU zu mehr energiepolitischer Sicherheit, auch für EU-Beitrittskandidaten, und Unabhängigkeit von Gas hat das Diplomatische Magazin mit Tim McPhie gesprochen, EU-Kommissionssprecher für Klimapolitik und Energie.

DM: Die Sicherheitslage in Osteuropa ist auch für den Energiesektor ein drängendes Thema. Welche Rolle spielen erneuerbare Energien?
Tim McPhie: Erneuerbare Energien sind der Schlüssel, um unsere Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen so schnell wie möglich zu beenden. Wie Kommissionspräsidentin von der Leyen sagte, ist jeder Euro, den wir jetzt in erneuerbare Energien investieren, eine Anzahlung auf unsere zukünftige Energieunabhängigkeit. Die Europäische Union ist sich einig in ihrer Verpflichtung, die grüne Wende zu beschleunigen und sich schnell von russischen fossilen Brennstoffen zu lösen. Die Kommission legte im März ihre Ideen für einen REPowerEU- Plan vor, der von den Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem Treffen in Versailles rasch gebilligt wurde. Am 18. Mai legte die Kommission einen detaillierten REPowerEU-Plan vor, der sich auf die Diversifizierung der Energieversorgung, die Verbesserung der Energieeffizienz und Energieeinsparungen sowie die Beschleunigung des Übergangs zu erneuerbaren Energien konzentriert. Die Kommission schlägt vor, Europas rechtsverbindliches Ziel für den Anteil erneuerbarer Energien am Energiemix bis 2030 von 40 % auf 45 % zu erhöhen. Wir haben auch eine Solarenergiestrategie vorgelegt, die dazu beitragen wird, die derzeit installierte Kapazität bis 2025 auf 320 GW zu verdoppeln und bis 2030 fast 600 GW zu erreichen. Eine europäische Initiative für Solardächer wird vorschreiben, dass alle neuen Gebäude ab 2029 mit Solarmodulen ausgestattet sein müssen, wobei ab 2026 eine schrittweise Einführung für verschiedene Gebäudekategorien vorgesehen ist. Wir haben auch vorgeschlagen, die Genehmigungsverfahren für größere Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien, einschließlich Windparks, zu beschleunigen, um die Genehmigungsdauer zu verkürzen. Der REPowerEU- Plan wurde von den Staats- und Regierungschefs auf der Tagung des Europäischen Rates am 30. und 31. Mai gebilligt und wird nun umgesetzt. Europa hat sich bereits darauf geeinigt, Kohleimporte aus Russland bis zu diesem Sommer und 90 % der Ölimporte bis zum Jahresende zu verbieten, sodass der Weg zur Abkehr von russischen fossilen Brennstoffen bereits eingeschlagen ist.

DM: Wie können Länder, die sich für die EU-Mitgliedschaft beworben haben und durch die russische Invasion in der Ukraine besonders bedroht sind im Hinblick auf Energie unterstützt werden? Im Bereich Strom wurden Moldawien und die Ukraine zum Beispiel an das EU-Stromnetz angeschlossen, aber welche anderen Maßnahmen können durchgeführt werden?
Tim McPhie: Neben dem REPowerEU-Plan hat die Kommission eine neue externe Energiestrategie vorgestellt, die einen starken Fokus auf unsere Nachbarländer und die globale grüne Wende legt. Die Strategie schenkt der Ukraine besondere Aufmerksamkeit, und wir werden gemeinsam eine REPower- Ukraine-Initiative vorbereiten, um das ukrainische Energiesystem wieder und besser aufzubauen, wobei der Schwerpunkt auf Entkarbonisierung und Energieunabhängigkeit liegt. Während der von Russland begonnene Krieg weitergeht, werden wir die Ukraine bei Bedarf weiterhin mit Energie versorgen. Gaslieferungen in umgekehrter Richtung (zum Beispiel von der EU in die Ukraine/Moldawien, vorausgesetzt, dass die EU ausreichende Reserven hat, Anm. d. R.) können die Ukraine und Moldawien über die Slowakei, Ungarn, Polen und Rumänien erreichen. Nach dem Anschluss der ukrainischen und moldawischen Stromnetze werden wir darauf hinarbeiten, den Stromhandel zu ermöglichen. Die Kommission wird die Ukraine auch beim Wiederaufbau eines grünen und modernen Energiesystems nach dem Krieg unterstützen. Die neue EU-Energieplattform wird Länder zusammenbringen, die auf freiwilliger Basis gemeinsam alternative Energie kaufen wollen, um vom russischen Gas wegzukommen. Die Teilnahme an der Plattform steht nicht nur den Mitgliedstaaten offen, sondern auch den westlichen Balkanstaaten, der Ukraine, Moldawien und Georgien. Wir setzen auch unsere grüne Agenda mit den westlichen Balkanstaaten fort und fördern Investitionen in die Energiewende und den Kohleausstieg. Die Integration der westlichen Balkanstaaten in den EU-Binnenmarkt für Elektrizität wird diesen Wandel ebenso unterstützen wie die schrittweise Einführung von Kohlenstoffpreisen.

DM: Kernenergie aus bestehenden Kernkraftwerken in der EU könnte zur Sicherung der Energieversorgung beitragen. Warum wird das nicht als vorübergehende Lösung für die derzeitige Energiekrise in Betracht gezogen?
Tim McPhie: Der Energiemix der einzelnen Mitgliedstaaten liegt in der nationalen Zuständigkeit. Die Entscheidung, Kernkraftwerke zu bauen und zu betreiben, ist eine nationale Entscheidung. Derzeit nutzt etwa die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten die Kernenergie, die anderen nicht. Der im REPowerEU- Plan verfolgte Ansatz spiegelt diese Unterschiede wider und schlägt eine Vielzahl ausgewogener Antworten vor, die den spezifischen Bedürfnissen der Mitgliedstaaten entsprechen und gleichzeitig die EU als Ganzes bis 2050 zur Klimaneutralität führen. Die Abkehr von den russischen fossilen Brennstoffen erfordert gezielte Investitionen in die Gasinfrastruktur, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, und nur sehr begrenzte Änderungen an der Ölinfrastruktur sowie umfangreiche Investitionen in das Stromnetz und ein EU-weites Wasserstoff-Backbone. Parallel dazu könnten auch einige der bestehenden Kohlekapazitäten länger als ursprünglich erwartet genutzt werden, wobei auch die Kernenergie und die heimischen Gasressourcen eine Rolle spielen könnten.

DM: Die EU hat Interesse an der Einfuhr von Gas gezeigt, das durch Fracking in den USA gewonnen wird. Wie lässt sich diese Entscheidung mit den EU-Zielen der ökologischen Nachhaltigkeit vereinbaren, da Fracking eine besonders umweltschädliche Praxis ist?
Tim McPhie: Die EU und die USA arbeiten eng zusammen, um die Abhängigkeit Europas von russischer Energie zu verringern und die Energiesicherheit und Nachhaltigkeit Europas zu unterstützen. Außerdem setzen wir uns beide für einen beschleunigten globalen Übergang zu sauberer Energie ein und wollen unsere Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen erfüllen und bis 2050 Netto-Null-Emissionen erreichen. Erdgas wird während der grünen Wende ein wichtiger Bestandteil des EU-Energiesystems bleiben und verursacht weniger Treibhausgasemissionen als die festen fossilen Brennstoffe, die wir auslaufen lassen. Die USA und die EU haben sich verpflichtet, die Kohlenstoffintensität des Erdgases, das wir in unseren Energiesystemen verwenden, mit der Zeit zu verringern. Wir werden uns bemühen, die Treibhausgasintensität aller neuen LNG-Infrastrukturen und der dazugehörigen Pipelines zu verringern, u. a. durch den Einsatz sauberer Energie für den Betrieb vor Ort, die Verringerung von Methanlecks und den Bau einer wasserstofftauglichen Infrastruktur.

Interview Cristina Cöllen