Inzwischen kann man mit guter Gewissheit sagen: Die Auferstehung der totgeglaubten postfaktischen Bewegungen hat unsere aufgeklärte Welt überrascht. Vielerorts wird die öffentliche Debatte inzwischen von einem Gefühl der Hilflosigkeit dominiert; nicht nur in den Medien, sondern auch in den wissenschaftlichen Diskussionen. Plötzlich geraten Evidenzen-basierte politische Entscheidungsprozesse auf den unterschiedlichsten Ebenen in Erklärungsnot, wenn nicht sogar in eine beispiellose Legitimitätskrise. Akademiker, Wissenschaftlicher und Fachexperten sind in der Defensive und gezwungen, ihr Gesellschaftsmandat gegenüber einer zunehmend skeptischen Öffentlichkeit neu zu rechtfertigen.
Dabei war die zentrale Bedeutung des Expertenwissens für die Politikgestaltung weitgehend selbstverständlich. Wissenschaftliches und technisches Verständnis legten für die kollektive Entscheidungsfindung einen Rahmen fest. Objektivität sollte dabei helfen, die Differenzen zwischen politischen Ansichten erfolgreich zu überbrücken. Im postfaktischen Zeitalter wird diese Objektivität des Expertenwissens nun plötzlich hinterfragt. Was also führt dazu, dass die Wissenschaft und Fakten plötzlich als Stellvertreter für normative politische Entscheidungen wahrgenommen werden? Warum lehnen Anhänger von rechts- und linkspopulistischen „Strongmen“ Fakten ab? Will die Gesellschaft nun Ignoranz statt Wissen als Rahmen der Politikgestaltung? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen lohnt es sich, einen genauen Blick auf die Wissensdiplomatie zu werfen.
Wissensdiplomatie kann als ein Aggregat verschiedener Verhandlungsprozesse in der kollektiven Entscheidungsfindung auf unterschiedlichen Ebenen verstanden werden. Der Prozess hilft dabei, technisches Wissen, Komplexität und Ungewissheit zu strukturieren. Wissensdiplomatie liefert dabei die Grundlage für Verhandlungen. Anhand der Art und Weise der Einflussnahme kann Wissensdiplomatie in verschiedene Arten eingeteilt werden. Ein zentraler Typ der Wissensdiplomatie betrifft zum Beispiel die Institutionalisierung von Konsenswissen. Ein Beispiel hierfür ist die Zusammenfassung für Entscheidungsträger der Sachstandsberichte des Weltklimarats (IPCC), die de facto als Grundlage der Verhandlungen rund um die Klimarahmenkonvention gelten.
Ein weiterer Typus der Wissensdiplomatie ist die Einflussnahme von Experten aus der Wissenschaft und dem Privatsektor, die durch Forschung und Berufserfahrung technisches Wissen erlangt haben. Einige Gruppen streben hierdurch keine direkte Einflussnahme an. Andere – darunter zum Beispiel zahlreiche Thinktanks – erhoffen sich durch gezielte Generierung und Verbreitung von Wissen bestimmte Änderung in den Präferenzen von Entscheidungsträgern.
Wissen kann Machtverhältnisse ändern
Das so generierte Wissen kann als Machtbasis für Akteure dienen, die sich in einem Verhandlungsprozess befinden. Macht ist ein integrales Element dieser Verhandlungen, denn nur Macht ermöglicht das Durchsetzen von Interessen. Dabei kann man kritisch feststellen, dass es eher kleinere, reiche Staaten sind, die diese Anführerrolle durch technisches Wissen erlangen. Dagegen haben Entwicklungsländer weniger Kapazitäten, ihre technische Expertise aufzubauen. Große Initiativen – wie zum Beispiel die Thinktank-Offensive von China – drängen darauf, diese Nachteile durch konkrete Investitionen in Forschung zu überwinden.
Im nationalen Kontext spielt technisches Wissen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wissen kann Machtverhältnisse ändern, vor allem zugunsten derjenigen, die Zugang zu Wissen haben. Spannungen entstehen allerdings dann, wenn die wissenschaftliche Gemeinde, die über die Autorität zur Generierung und Interpretationen von Wissen verfügt, zum kalkulierenden politischen Akteur wird. Das säht Zweifel an dem Mandat der vermeintlich apolitischen Wissenschaft und führt dazu, dass die Grenze zwischen Objektivität und politischer Agenda verwischt wird. Die Verlagerung von politischen Entscheidungen auf Expertengremien trägt zur Ausdünnung der politischen Verantwortlichkeit bei. Dadurch vergrößert sich die Distanz zwischen Gesellschaft und Politik sowie zwischen Politik und gesellschaftlicher Verantwortung; vor allem dann, wenn unpopuläre Interventionen durch technisches Wissen legitimiert werden.
Gefährliche Marktlogik in der Wissenschaft
Für die Wissenschaft bedeutet diese Entwicklung nicht nur eine Veränderung ihrer (Selbst)wahrnehmung, sondern auch ihrer Wirkung. Die Kopplung zwischen Wissensgenerierung und politischer Entscheidungsfindung fördert in der Wissenschaft eine gewisse Marktlogik. Das zunehmende Klientel-Denken in vielen Forschungseinrichtungen wird durch erhöhte Konkurrenz um Forschungsgelder verstärkt. Ihre Konkurrenzfähigkeit wird zunehmend an ihrer Politik- und Marktrelevanz gemessen. Dies führt dazu, dass Forschungsfragen sowie Methodologie an die „Abnehmer“ angepasst werden. Diese Abhängigkeit kann dazu führen, dass Wissenschaft nicht mehr primär für die Schaffung von Wissen agiert, sondern um den Klienten zufriedenzustellen. Wenn politische Akteure dann nach wissenschaftlichen Studien „shoppen“, die ihre politische Agenda untermauern, führt das zu einem Glaubwürdigkeitsverlust der gesamten Wissenschaft. Vor allem weil das politische Establishment seine Autorität durch Expertenwissen rechtfertigt, entsteht der Anschein, dass die Wissenschaft nur noch ein Vorrecht der Eliten ist. Durch diesen Verlust der Glaubwürdigkeit kann Wissen zur bloßen Meinung degradiert werden, die mit auf Ideologien und Emotionen basierten Meinungen gleichgesetzt wird.
Wenn die Träger der Wissenschaft und Experten dieser Entwicklung des postfaktischen Zeitalters etwas entgegensetzen wollen, müssen sie selbstkritisch reflektieren. Zum Beispiel sollten Grundsatzfragen der Wissenschaft und Wissenschaftsethik zunächst allein von Wissenschaftlern und unabhängig von deren politischen Abnehmern formuliert werden. Dazu können neue Diskurse über ihr Gesellschaftsmandat hilfreich sein. Nur so kann das vermeintliche Narrativ-Monopol der anti-intellektuellen Bewegungen gebrochen werden.
Neue Ansätze, wie zum Beispiel die Demokratisierung von Wissenschaft und Dialogformate zwischen Wissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern, sind nötig. Dabei ist es wichtig, dass kritische Stimmen zur gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaft sich erfolgreich von Verschwörungstheoretikern und Demagogen distanzieren können. Diese Demokratisierung der Wissenschaft setzt deren Unabhängigkeit voraus.
Wie die freie Presse ist auch die Wissenschaft im postfaktischen Zeitalter in Gefahr. Da beide wichtige Fundamente der demokratischen Ordnung sind, ist es Aufgabe des Staates, deren Legitimität zu schützen. Für den Staat ist es ein wichtiger Balanceakt, Entscheidungen mit Hilfe von technischem Wissen zu treffen und dabei gleichzeitig die Etablierung einer Technokratie zu vermeiden. Die inhaltliche Trennung vom Staat und Wissenschaft bedeutet aber keinesfalls, dass Staaten nicht dafür verantwortlich sind, die Wissenschaft zu unterstützen. Der Aktivismus einzelner Wissenschaftler sollte keineswegs die Neutralität von Wissenschaft als Ganzes vermindern. Denn dieser Aktivismus hat in der Vergangenheit oft zu wichtigen Innovationen geführt. Dazu darf die finanzielle Unterstützung der Politik nicht nur an die vermeintliche Politikrelevanz gebunden werden, da dadurch die Unparteilichkeit der Wissenschaft zunehmend in Frage gestellt wird.
Über den Autor:
Dr. Ariel Hernandez ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprogramms Inter- und transnationale Zusammenarbeit am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).