Bis zum Jahr 2030 sollen chemische Pestizide in der EU halbiert werden. Kaum wurden diese Pläne öffentlich, kündigten Bauernverbände „massiven Widerstand“ an und warnten, ohne Pflanzenschutzmittel gingen die Erträge zurück. Ihr Slogan: „Wir stehen für Ernährungssicherheit!“ Aber stimmt das? Ist die Ernährungssicherheit gefährdet, wenn die europäische Landwirtschaft ohne Pestizide auskommen muss? Annemarie Botzki, Mitarbeiterin bei der Verbraucherorganisation foodwatch, verweist auf eine Studie ihrer Organisation, die deutlich mache, wie abhängig das Agrarsystem der Europäischen Union von Pestiziden sei. Doch ein Ausstieg kann gelingen, meint die foodwatch Mitarbeiterin.
Bisher sind alle Versuche für eine Reduzierung gescheitert. Der Einsatz von Pestiziden ist in der EU heute sogar deutlich höher als in den 1990er Jahren – mit fatalen Folgen für Artenvielfalt, Klimaschutz, Bodenqualität und Gesundheit. Profiteure dieser Abhängigkeit sind vor allem Unternehmen wie der Chemieriese Bayer.
RESISTENZEN GEGEN SCHÄDLINGE
Ursprünglich schienen Pestizide ein nützliches Instrument zur Bekämpfung von Schädlingen und Krankheiten zu sein. Doch schon bald wurden zum Beispiel Schädlinge resistent, wodurch noch mehr Pestizide eingesetzt werden mussten – ein Teufelskreis. Landwirtinnen und Landwirte sind in unserem Agrarsystem heute wirtschaftlich abhängig von Pestiziden. Der größte Teil der landwirtschaftlichen Erzeugnisse wird an eine Handvoll von Konzernen und Großhändler verkauft, die den Preis, die Sorten und die Qualität bestimmen.
IMMER HÖHERE ERTRÄGE
Viele Landwirte wissen vor der Ernte nicht einmal, welchen Preis ihre Produkte erzielen werden. Die Bauern können nur dann einen Gewinn erzielen, wenn sie die Kosten pro produzierter Einheit senken oder mehr Einheiten zu den gleichen Kosten produzieren. Sie müssen also immer höhere Erträge erzielen zu immer niedrigeren Preisen – ohne den massiven Einsatz von Pestiziden ist das kaum möglich.
ZERSTÖRUNG BIOLOGISCHER VIELFALT
Die Folgen sind fatal – nicht nur für die Umwelt, sondern auch für die Ernährungssicherheit. Denn ganz anders als von Großkonzernen wie Bayer behauptet, droht uns nicht ohne Pestizide, sondern genau wegen des Pestizidgebrauchs eine Nahrungskrise. Weil das derzeitige Niveau beim Einsatz von „Pflanzenschutzmitteln“ die biologische Vielfalt in 10 bis 15 Jahren derart gefährden würde, dass die Landwirtschaft in Europa nicht mehr aufrechterhalten werden könnte.
VIELFALT STATT MONOKULTUREN
Was die Pestizid-Lobby gerne ignoriert: Betrachtet man das Verhältnis zwischen Input und Output, so stellen afrikanische und asiatische Kleinbäuerinnen und Kleinbauern Lebensmittel wesentlich effizienter her als europäische Landwirte. Betriebe, die auf vielfältigen Anbau setzen, übertreffen Monokulturen in Sachen Ertrag und Rentabilität deutlich. Großbetriebe sind zudem stärker auf Subventionen angewiesen als kleinere Betriebe.
PRODUKTION VON TIERFUTTER
Ein weiterer entscheidender Punkt in der irreführenden Diskussion um Nahrungssicherheit: Nur ein Bruchteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Europa wird derzeit für die Produktion von Lebensmitteln genutzt. Große Mengen an Land und anderen Ressourcen werden für die Produktion von Tierfutter verwendet. Die Landwirtschaft in der EU ernährt sieben Milliarden Nutztiere pro Jahr – und nur etwa 0,45 Milliarden Menschen. Hinzu kommt, dass Millionen von Tonnen an Lebensmitteln im Müll landen.
WEG AUS DER PESTIZIDABHÄNGIGKEIT
Eine Landwirtschaft ohne Pestizide ist möglich. Dazu hat der foodwatch-Report konkrete politische Lösungsansätze vorgelegt:
- Hohe Besteuerung von Pestiziden entsprechend ihrer Umweltkosten
- Erhöhung der Gebühren für die Zulassung und Regulierung von Pestiziden, die den tatsächlichen Kosten entspricht
- Einführung eines CO2-Preises: Eine Bepreisung von klimarelevanten Gasen muss so eingestellt werden, dass energieintensive Inputs, vor allem mineralische Stickstoffe und Emissionen viel kostspieliger werden, während die Kohlenstoffbindung gefördert wird. Ein Preis von 180 € pro Tonne CO2eq (CO2-Äquivalent, Anm. d. Red.) würde den aktuellen Stand widerspiegeln
- Direktvermarktung von Bauern und Bäuerinnen finanziell unterstützen
- Lokale und regionale Wertschöpfungsketten finanziell unterstützen
- Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU mit dem Ziel der Pestizidreduzierung reformieren
FEHLANREIZE ABSCHAFFEN
Außerdem ist es Zeit, die direkten und indirekten Subventionen für die Fleisch- und Milcherzeugung abzuschaffen und stattdessen Basiszahlungen für ländliche Arbeit und die Produktion klimafreundlicher und gesunder Lebensmittel einzuführen. Unabdingbar sind zudem Blühstreifen, die Wiederherstellung von Lebensräumen wie zum Beispiel Hecken oder ein obligatorischer Zwischenfruchtanbau zwischen den einzelnen Ackerkulturen. Auch die Auswahl von schädlings- und krankheitstoleranten Sorten ist ein wichtiges Schlüsselprinzip für natürlichen Pflanzenschutz.
ABWECHSELNDE FRUCHTFOLGEN
Abwechslungsreiche Fruchtfolgen sind eine der ältesten und effektivsten Methoden für gesunde Böden. Die Fruchtfolge erhöht den Humusgehalt (Kohlenstoffspeicherung) und die Biodiversität. Populationen von schädlichen Krankheiten, Schädlingen und Unkräutern entwickeln sich viel langsamer, denn die Fruchtfolge unterbricht gewisse Wechselwirkungen zwischen Feldfrüchten, Unkräutern und Schädlingen. Vögel wiederum spielen eine wichtige Rolle bei der Insektenbekämpfung in Obstgärten und anderen Anbaubereichen.
FAZIT
Der Weg zur Pestizidfreiheit in der EU ist machbar. Alle notwendigen Instrumente stehen bereits zur Verfügung. Ein Produktionsrückgang ist nicht zu befürchten. Klar ist aber: Die landwirtschaftliche Produktion muss sich in den kommenden Jahrzehnten enorm verändern – nicht nur, um Umwelt, Klima und Artenvielfalt zu schützen, sondern auch, um unsere Ernährungssicherheit zu gewährleisten!
foodwatch
Die unabhängige internationale Verbraucherorganisation mit Büros in Berlin, Brüssel, Amsterdam, Paris und Wien klärt auf über verbraucherfeindliche Praktiken der Lebensmittelindustrie und kämpft für das Recht auf qualitativ gute und gesundheitlich unbedenkliche Lebensmittel. foodwatch ist ein gemeinnütziger Verein und unabhängig von der Lebensmittelwirtschaft sowie von staatlichen und EU-Geldern. www.foodwatch.de
Text Annemarie Botzki, Verbraucherorganisation foodwatch