DM: Herr Botschafter, Indonesien ist als viertbevölkerungsreichstes Land die drittgrößte Demokratie der Welt. Auch lebt dort die weltweit größte Anzahl an Muslimen. Wie wichtig ist Religionsfreiheit für Ihr Land?
S.E. Arif Havas Oegroseno: Lassen Sie mich zunächst aus rechtlicher Perspektive antworten. Die Religionsfreiheit ist in unserer Verfassung als eines der Grundrechte des Volkes festgeschrieben. In Indonesien gibt es sechs Hauptreligionen: Islam, Katholizismus, Protestantismus, Buddhismus, Hinduismus und Konfuzianismus. Hinzu kommen zahlreiche einheimische indonesische Glaubensrichtungen, die schon lange existierten, als zu Beginn des 1. Jahrhunderts die erste ausländische Religion – der Buddhismus – nach Indonesien kam.
Lassen Sie uns nun darüber sprechen, wie diese Freiheit anerkannt und umgesetzt wird. Ein einfaches Beispiel: Alle religiösen Feiertage sind in Indonesien gesetzliche Feiertage. So haben Muslime an Weihnachten oder Karfreitag frei, Christen wiederum am muslimischen Tag des Fastenbrechens Eid al-Fitr oder am buddhistischen Feiertag Vesakh und so weiter. Nur in Indonesien werden alle wichtigen religiösen Feiertage offiziell gefeiert und begangen, was im größten muslimischen Land der Welt besonders einzigartig ist. In anderen großen Demokratien wie Indien, den USA, Japan und Deutschland gibt es diese Praxis nicht.
Die religiöse Toleranz in Indonesien ist das Ergebnis jahrtausendelanger Interaktionen zwischen den alten indonesischen Gesellschaften untereinander sowie mit Menschen aus verschiedenen anderen geografischen Räumen. Auf diese Weise ist eine aufgeschlossene Gesellschaft entstanden, die das heutige Indonesien prägt.
Indonesien ist nicht nur Gründungsmitglied des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN), sondern auch dessen größte Volkswirtschaft. Welche Ziele verfolgt Ihr Land für die weitere Zusammenarbeit mit Partnern in der Region?
Indonesien ist in der Tat seit der Gründung der ASEAN im Jahr 1967 ein wichtiges Mitglied des Verbands. Wir sind sehr stolz auf unsere Mitgliedschaft und bemühen uns stets, unseren besten Beitrag zu leisten, damit sich der Verband positiv entwickeln kann. Indonesien bekräftigt sein Engagement für die Stärkung der ASEAN als eine Region des dauerhaften Friedens, der Sicherheit und Stabilität, des nachhaltigen Wirtschaftswachstums, des gemeinsamen Wohlstands und des sozialen Fortschritts. Als Region weist die ASEAN auch weiterhin positive Leistungen in Produktion, Handel und Investitionen aus. Die Wirtschaft in der Region wuchs 2018 um 5,2 Prozent und erreichte im selben Jahr ein Gesamt-BIP von drei Billionen US-Dollar, womit sie ihre Position als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt behaupten konnte.
Die Arten der Zusammenarbeit innerhalb der ASEAN werden in der ASEAN-Charta hervorgehoben. Diese sieht die Region als eine zusammenhängende Gemeinschaft vor, die auf drei Säulen fußt: eine sicherheitspolitische, wirtschaftliche und soziokulturelle Staatengemeinschaft. Im Bereich Handel und Wirtschaft wird die ASEAN auch durch aktive Verhandlungen über Freihandelsabkommen im asiatisch-pazifischen Raum im Rahmen der „Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP)“ aktiv. Bislang erwarten wir, dass die zehn ASEAN-Mitgliedsstaaten sowie Australien, China, Japan, Neuseeland und Südkorea das Abkommen zur RCEP unterzeichnen werden.
Die ASEAN ist auch der am schnellsten wachsende Internetmarkt der Welt, und wir wissen auch, wie wir daraus Kapital erzeugen können. Berichten zufolge kommen jeden Tag ungefähr 125.000 Nutzer aus der ASEAN-Region neu ins Internet, was ein deutliches Wachstum der digitalen Wirtschaft in der Region erwarten lässt. Der Wert der digitalen Wirtschaft für das regionale BIP in den ASEAN-Staaten wird für das nächste Jahrzehnt auf eine zusätzliche Billion Dollar geschätzt. Die ASEAN erkennt an, dass wichtige politische Maßnahmen und Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um eine reibungslose Umsetzung der digitalen Wirtschaft zu gewährleisten. Daher wurden der „ASEAN Economic Community Blueprint 2025“, der „Master Plan on ASEAN Connectivity 2025“ und das „e-ASEAN Framework Agreement“ abgefasst.
Vom 13. bis 17. Juli ist Indonesien das offizielle Partnerland der diesjährigen „Hannover Messe“ und stellt unter anderem die Initiative „Making Indonesia 4.0“ vor. Worauf können sich die Besucher an Ihrem Stand freuen?
Es gibt einen politisch-strategischen Plan, mit dem ein Rahmen für die Industrie 4.0 in Indonesien geschaffen wird. Auf der anderen Seite gibt es einige Produktionsstätten, die bereits bei 4.0 angekommen sind. Ein Beispiel hierfür ist die Textilproduktion. In Indonesien haben wir eine 4.0-Produktionsstätte, in der Uniformen aus High-Tech-Materialien hergestellt werden, zum Beispiel für das Militär oder die Feuerwehr. Der Wandel ist in vollem Gange und die Grundlage dafür ist unsere starke digitale Wirtschaft mit ihren vielen Start-ups, Programmierern etc.
Indonesien steht nicht nur für Tourismus. Wir werden uns als ein Land präsentieren, das industrielle Entwicklungsmöglichkeiten bietet, die für Investoren attraktiv sind und die Industrie 4.0 unterstützen können. Wir wollen als ein Land gesehen werden, das bereit ist, eine wichtige Rolle in der globalen Wertschöpfungskette zu übernehmen. Wir sind offen für Geschäfte!
Wir kuratieren 173 Aussteller, darunter 23 Start-ups. Es wird von unserer Seite Präsentationen über die Road- map geben und darüber, wie die globale Industrie mit uns zusammenarbeiten kann, um unsere Roadmap zu stärken und zu beschleunigen, und natürlich über die neue Regierungspolitik, die mehr Investitionen nach In- donesien lockt.
Wir haben fünf verschiedene Prioritäten in verschiedenen Sektoren für die 4.0-Entwicklung in Indonesien: Nahrungsmittel und Getränke, Textilien, Elektronik, Auto- mobil und Chemieprodukte.
Lassen Sie mich den Schwerpunkt auf den Sektor Automatik legen, der Elektrofahrzeuge und autonome Fahrzeuge umfasst. Wir haben bereits große deutsche Marken, die in Indonesien vertreten sind, wie Mercedes, BMW, MAN, und wir hoffen auf eine neue Zusammenarbeit mit Volkswagen in diesem Jahr. Wir haben mit verschiedenen Branchen in Deutschland diskutiert, um gemeinsam Batterien zu entwickeln. Indonesien hat die höchsten Nickelvorkommen der Welt, und wir prüfen jetzt die nachgelagerten Investitionen, bei denen nicht nur Batterien entwickelt werden, sondern auch der Prozess des Batterie-Recycling. In diesem Zusammenhang spielt die Entwicklung in der chemischen Industrie eine sehr wichtige Rolle bei unserer 4.0-Transformation.
2009 wurde ein Partnerschafts- und Kooperations- abkommen mit der EU unterzeichnet und es gibt derzeit Gespräche über ein darüber hinausgehendes Handels- abkommen. Wie ist der aktuelle Stand?
Die 9. Runde des „Indonesia – EU Comprehensive Economic Partnership Agreement (CEPA)“ fand vom 2. bis 6. Dezember 2019 in Brüssel statt. Dabei zeigten sich kontinuierliche Fortschritte und in den meisten Kapiteln, über die verhandelt wurde, weitere Textkonsolidierungen. Was den Inhalt anbelangt, so konnten sich die Verhandlungsführer auf eine weitere Textkonsolidierung in den Bereichen Rechte an geistigem Eigentum, Ursprungsregeln, bewährte Regulierungspraxis, öffentliches Beschaffungswesen, Streitbeilegung, Handel und nachhaltige Entwicklung, Lösung von Investitionsstreitigkeiten sowie in mehreren ergänzenden Texten einigen.
Die Verhandlungen wurden offiziell am 18. Juli 2016 mit dem Ziel aufgenommen, den Marktzugang zu erleichtern und neue Märkte zu schaffen, den Handel zwischen Indonesien und der EU zu intensivieren und die Direktinvestitionen auszuweiten. Unser Präsident Joko Widodo hat das Ziel ausgegeben, das Abkommen bis 2020 abzuschließen.
In welchen Bereichen der indonesischen Wirtschaft sehen Sie das entscheidende Zukunftspotenzial?
Umweltfragen sind definitiv sehr wichtig. Unser Ziel ist es, die CO2-Emissionen bis 2030 um 29 Prozent zu reduzieren. Ein weiteres Thema ist die Luftverschmutzung durch viele alte Fahrzeuge. Hier ist es unser Ziel, die Zahl der elektrischen Fahrzeuge deutlich zu erhöhen: 2025 soll ihr Anteil 20 Prozent betragen. Und das können wir erreichen, da wir alle Voraussetzungen erfüllen und über die Rohstoffe verfügen, die für die E-Mobilität notwendig sind. Zu diesem Zweck verfügen wir über mehrere Wasserkraftwerke, in deren Nähe wir alles finden, was wir zur Herstellung von Lithium-Batterien benötigen. Das spart Kosten und vor allem Energie.
Ende letzten Jahres war Indonesien von schweren Regenfällen, Überschwemmungen und Erdrutschen betroffen. Auch Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis haben in der Vergangenheit Ihre Bevölkerung bedroht. Welche Gegenmaßnahmen plant Ihre Regierung?
In der Tat: Durch unsere Lage am „Pazifischen Feuerring“ ist Indonesien anfällig für Naturkatastrophen, vor allem Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis. Im Jahr 2008 wurde die Nationale Agentur für Katastrophenschutz (BNPB) gegründet, die den seit 1966 bestehenden Zentralen Beirat zum Management von Naturkatastrophen ersetzte. Die Agentur koordiniert die Anstrengungen im Bereich des Katastrophenmanagements, einschließlich Katastrophenprävention, Notfallreaktion, Rehabilitation und Wiederaufbau. Indonesien verfügt über die gesamte notwendige Infrastruktur für den Katastrophenschutz und die Katastrophenhilfe.
Im vergangenen Jahr verdoppelte die Regierung zudem die Finanzmittel für die Katastrophenvorsorge auf eine Milliarde US-Dollar. Zwei Drittel dieser Mittel sind für die Katastrophenhilfe vorgesehen, der Rest für die Rehabilitation und den Wiederaufbau. Ich kann sagen, dass wir bereit sind, effektiv auf Naturkatastrophen zu reagieren und ihre Auswirkungen auf unsere Bevölkerung abzumildern.
Was den Rechtsrahmen betrifft, so wage ich zu behaupten, dass unser Gesetz Nr. 24/2007 das umfassendste Regelwerk zum Katastrophenmanagement ist. Es umfasst das Paradigma der Katastrophenrisikominderung, die Verankerung des Katastrophenmanagements, die Budgetierung, die Einbeziehung der lokalen Regierungen, den Prozess der Katastrophenerklärung, eine solide Organisationsplanung sowie das Recht der Bevölkerung auf Katastrophenschutz.
Deutschland und Indonesien arbeiten im Bereich Kultur und Bildung besonders eng zusammen. Welche Projekte würden Sie hervorheben?
Ja, das stimmt. In den ersten Jahrzehnten, seit Indonesien und Deutschland im Jahr 1952 formelle diplomatische Beziehungen aufgenommen haben, waren Bildung und Kultur die Hauptbereiche unserer bilateralen Zusammenarbeit. Seit Ende der 1950er-Jahre kamen Hunderttausende indonesische Studierende nach Deutschland, um dort in den Bereichen Ingenieurwesen, Luftfahrt, Schifffahrt, Eisenbahn oder anderen Technologien zu studieren. Und das trägt Früchte: Nun verfügt Indonesien über die Fähigkeit, Lokomotiven, Seetransportschiffe, Landungsschiffe, Fregatten, Hubschrauber und Doppelpropeller-Flugzeuge selbst zu entwickeln und zu konstruieren.
Mir persönlich ist es ein Anliegen, die Bildungszusammenarbeit mit Deutschland weiter zu stärken, indem durch die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und dem LPDP immer mehr junge Menschen aus Indonesien zum Studium nach Deutschland kommen können. LPDP ist ein Stipendien- und Forschungsfonds, der 2011 unter Federführung des Finanzministeriums aufgelegt wurde. Dieser Stiftungsfonds für den Bildungsbereich umfasst 3,5 Milliarden US-Dollar. Meine Aufgabe dabei ist es, dem LPDP eine Reihe renommierter deutscher Universitäten zu empfehlen, die in die Liste der LPDP-Hochschulziele aufgenommen werden sollten. Ich bin mir der Exzellenz der deutschen Universitäten umfänglich bewusst, insbesondere in den Bereichen Ingenieurwesen und Technologie. Viele Listen von weltweiten Hochschulrankings geben jedoch aus irgendwelchen Gründen angelsächsischen Universitäten den Vorzug und werden der Qualität deutscher Universitäten nicht gerecht. Ich bin hier, um diese Denkweise zu ändern, damit mehr indonesische Studierende deutsche Universitäten als vielversprechende Studienziele in Betracht ziehen.
Auch die Zusammenarbeit zwischen indonesischen und deutschen Universitäten gehört zu meinen Prioritäten. Der binationale deutsch-indonesische Bachelorstudiengang „Marine Engineering“ an der Hochschule Wismar und dem Institut Teknologi Sepuluh Nopember ist ein gutes Beispiel für unsere Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Im vergangenen Jahr gelang es mir zudem, eine Vereinbarung zwischen dem indonesischen Ministerium für Forschung, Technologie und Hochschulbildung und dem Kuratorium der Lindauer Nobelpreisträgertagungen zu unterstützen, um die Teilnahme junger indonesischer Wissenschaftler an diesem angesehenen Forum zu gewährleisten und einen Meinungsaustausch mit akademischen Eliten aus der ganzen Welt zu ermöglichen.
Mein weiterer Schwerpunkt bei der Förderung der Bildungszusammenarbeit mit Deutschland liegt auf der technischen und beruflichen Bildung. Während des Besuchs des indonesischen Präsidenten am 18. April 2016 in der Bundesrepublik Deutschland wurde vereinbart, die engere Zusammenarbeit im Bereich der beruflichen Bildung zum Schwerpunkt der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Indonesien und Deutschland zu machen.
Die Revitalisierung der indonesischen Berufsbildung kann durch die Gründung des Indonesisch-Deutschen Berufsbildungsinstituts (IGVTI) erfolgen. Das Zentrum wird Ausbildungsangebote, (praktische und theoretische) Kurse sowie Entwicklungsmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen entsprechend den Bedürfnissen und Entwicklungen der Industriemärkte anbieten. Die Qualität der vom IGVTI ermöglichten Ausbildungsangebote wird in Indonesien und Deutschland von den Regierungen sowie den betreffenden Branchen anerkannt und garantiert.
Herr Botschafter, vielen Dank für das Gespräch.
INTERVIEW Markus Feller