Professor Nolte, vor dem Hintergrund aktueller internationaler Krisen und Konflikte: Wie ist es heute um das Völkerrecht bestellt? Schließlich zeigt sich, dass einige Staaten internationale Rechtsnormen nicht mehr in vollem Maße anerkennen und sogar die Idee einer globalen, auf Regeln basierenden Ordnung infrage stellen.
Das Völkerrecht ist belastbarer, als viele denken. Es besteht aus sehr unterschiedlichen Verträgen und allgemeinen Regeln. Deshalb muss man mit Aussagen über das Völkerrecht insgesamt vorsichtig sein. Es ist aber richtig, dass einige wichtige Regeln des Völkerrechts im Augenblick von manchen Staaten infrage gestellt werden. Es sind auch Regeln gebrochen worden. Ich glaube aber nicht, dass die Idee einer globalen, auf völkerrechtlichen Regeln basierenden internationalen Ordnung damit ernsthaft und langfristig infrage gestellt ist. Verstöße können sogar zu einer Bekräftigung von Regeln führen, wenn der Widerstand dagegen breit genug ist und es erkennbar wird, dass sich Verstöße langfristig nicht auszahlen.
Dem UN-Sicherheitsrat wird des Öfteren vorgeworfen, wegen des Vetorechts seiner ständigen Mitglieder häufig beschluss- und dadurch handlungsunfähig zu sein. Ist es nicht allmählich Zeit für eine Reform dieses Gremiums?
Eine Reform des UN-Sicherheitsrats ist sicherlich wünschenswert. Der Sicherheitsrat sollte durch eine Erweiterung der Zahl seiner Mitglieder breiter legitimiert werden, und das Vetorecht sollte möglichst begrenzt werden. Es stimmt, dass der Sicherheitsrat heute bei wichtigen Konflikten nicht aktiv genug eingreift. Allerdings ist es auch richtig, dass der Sicherheitsrat heute immer noch aktiver ist als zur Zeit des Kalten Krieges. Man sollte darüber hinaus bedenken, dass es leichter ist, den Sicherheitsrat zu kritisieren, als Reformvorschläge zu entwickeln, die praktikabel und weitestgehend akzeptabel sind. Solange solche Reformvorschläge nicht unter Reformdruck diskutiert werden, müssen wir mit dem leben, was wir haben. Eine Welt ohne Sicherheitsrat wäre bestimmt nicht besser.
In der Praxis gibt es beim Völkerrecht immer wieder strittige Fälle, wie etwa bei der Abspaltung der Krim von der Ukraine vor etwa fünf Jahren. Wie beurteilen Sie die Lage aus der heutigen Perspektive?
Die Tatsache, dass ein Fall strittig ist, bedeutet nicht, dass völkerrechtliche Regeln bei seiner Behandlung keine Rolle spielen. Die große Mehrheit der Staaten betrachtet die Krim weiterhin als Teil der Ukraine. Diese Staaten handeln auch entsprechend, etwa indem sie jetzt keine direkten Verkehrs- oder Handelsverbindungen dorthin zulassen und die Russische Föderation mit Sanktionen wegen Bruchs des Völkerrechts belegt haben. Dass dieses Vorgehen nicht schnell zum Erfolg führt, spricht nicht gegen die völkerrechtliche Regel. Das Völkerrecht funktioniert als dezentrale Rechtsordnung häufig langsamer als eine staatliche Rechtsordnung.
Seit über zehn Jahren sind Sie an der Humboldt-Universität zu Berlin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht tätig. Welche Themen diskutieren Sie dort besonders gern mit Ihren Studenten?
Ich spreche mit meinen Studierenden gern über aktuelle Fälle, in denen allgemeinere Fragen erkennbar werden. Zum Beispiel darüber, wer unter welchen Bedingungen bei einer Hungersnot oder einer Naturkatastrophe Hilfsmittel in ein Land bringen darf. Im aktuellen Fall Venezuela hat sich diese Frage nicht zum ersten Mal gestellt. So hat etwa die Regierung von Myanmar nach einer Naturkatastrophe im Jahr 2008 keine Hilfe ins Land gelassen. Mit den Studierenden überlege ich dann, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede zwischen solchen Fällen bestehen, und ob die Unterschiede rechtlich relevant sind. Bei solchen Diskussionen kann ich manchmal auch auf meine Arbeit in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen zurückgreifen, zum Beispiel auf die Prinzipien zum „Schutz von Personen im Fall von Katastrophen“, die die Kommission im Jahr 2016 verabschiedet hat.
Darüber hinaus gehören Sie dem Völkerrechtswissenschaftlichen Beirat des Auswärtigen Amts an. Könnten Sie uns vielleicht Ihre Arbeit dort näher beleuchten?
Dreimal im Jahr bespricht die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts aktuelle völkerrechtliche Fragen mit Kolleginnen und Kollegen von verschiedenen deutschen Universitäten. In diesem Völkerrechtswissenschaftlichen Beirat geht es nicht um die Erstellung von schriftlichen Gutachten oder gar um die Beteiligung von Externen an Entscheidungen. Vielmehr wird im Beirat berichtet und diskutiert. Zum Beispiel über völkerrechtliche Grenzen von Cyber-Verteidigung und Cyber-Abwehr, oder über die rechtlichen Möglichkeiten für Staaten, die humanitäre Situation in Syrien unter den gegebenen schwierigen Umständen zu verbessern. Das Auswärtige Amt erhält durch solche Diskussionen nicht nur ergänzenden Sachverstand, sondern kann auch eigene Überlegungen erproben.
Ende letzten Jahres wurde Ihre Kandidatur für die Wahl zum Richter des Internationalen Gerichtshofs für den Zeitraum 2021-2030 bekanntgegeben. Die Wahl wird im Herbst 2020 während der 75. Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen stattfinden. Was reizt Sie an dieser Aufgabe besonders?
Der Internationale Gerichtshof entscheidet über Rechtsfälle zwischen Staaten und erstattet Gutachten für UN-Organe. Als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen hat er eine besondere Verantwortung für die friedliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten und für die Verdeutlichung von Völkerrecht. Besonders wichtig finde ich, dass der Gerichtshof zu Entscheidungen gelangt, die sowohl dem Einzelfall gerecht werden als auch allgemein rechtlich überzeugend begründet sind. Dies zu erreichen ist oft nicht leicht. Ich möchte gern einen Beitrag dazu leisten, dass der Gerichtshof diesen Anspruch erfüllt. Dabei würde ich auch gern deutsche Erfahrungen, positive ebenso wie negative, als Teil des allgemeinen internationalen Erfahrungsschatzes einbringen. Schließlich spüre ich, und das klingt hoffentlich nicht unbescheiden, eine gewisse Mitverantwortung dafür, dass das Völkerrecht gepflegt und allgemein geachtet wird. Der Gerichtshof spielt dabei eine zentrale Rolle.
Bei allen Ämtern, die Sie bekleiden; womit beschäftigen Sie sich gern privat?
Meine Eltern haben die Lust am Reisen in andere Länder in mir geweckt. Heute reise ich gern mit meiner Frau. Ich habe auch Freude an Diskussionen mit unserer neunzehnjährigen Tochter. Sonst unternehme ich gern Fahrradtouren, gehe ins Theater, treffe Freunde, und lese manchmal sogar Bücher, die keinen Bezug zum Völkerrecht haben.
Professor Nolte, vielen Dank für das Gespräch.
INTERVIEW Markus Feller