DM: Frau Botschafterin, auch von unserer Seite noch einmal einen ganz herzlichen Glückwunsch nachträglich für den Fußballweltmeistertitel Ihrer Nationalmannschaft! Welche Bedeutung hat dieser Titel für Ihre Gesellschaft, auch nach dem vorübergehenden kollektiven Optimismus?
I.E. Anne-Marie Descôtes: Vielen Dank für die Glückwünsche! Für Frankreich ist dieser Sieg, genau wie für Deutschland im Jahr 2014, ein Moment der nationalen Verbundenheit, der unseren Zusammenhalt stärkt. Ich denke, dass wir diese positiven Emotionen und den neu gewonnenen Gemeinschaftssinn nutzen und mit in unsere gemeinsame Zukunft nehmen sollten. Denn ich bin mir sicher, dass wir mit Optimismus und Verbundenheit Großes erreichen können.
Die deutsch-französischen Beziehungen sind außerordentlich gut. Geht es denn eigentlich noch besser?
Seit meiner Ankunft vor einem Jahr in Berlin konnte ich zu meiner Freude nicht nur ein wachsendes Interesse der deutschen Öffentlichkeit für Frankreich feststellen, sondern auch und vor allem in ganz Deutschland die Vielfalt sowie die Kraft unserer bilateralen Beziehung erleben. Mit zehn Besuchen unseres Staatspräsidenten und unseres Premierministers in Deutschland seit Juni 2017 hat die französische Regierung ihren starken politischen Willen bewiesen, eine gemeinsame Zukunft mit Deutschland zu gestalten und die Herausforderungen zusammen anzugehen.
Vor 55 Jahren waren unsere Herausforderungen Aussöhnung und Annäherung, als Bundeskanzler Konrad Adenauer und Staatspräsident Charles de Gaulle den Élysée-Vertrag unterzeichneten. Heute ist es an der Zeit, in diesem für Europa entscheidenden Moment ihr Versprechen der Zusammenarbeit zu erneuern. Daher haben sich Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel für einen neuen Vertrag ausgesprochen.
Können Sie uns ein konkretes Beispiel für die deutsch-französische Zusammenarbeit geben, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
Frankreich und Deutschland spielen heute eine Vorreiterrolle im Bereich der Zukunfts- und Spitzentechnologien. Dies zeigt, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit auf die Zukunft ausgerichtet ist. Ein Beweis dafür ist zum Beispiel der 100. Start der europäischen Rakete Ariane am 25. September. Darüber hinaus haben unsere beiden Länder ein Pilotprojekt, um bahnbrechende Innovationen zu fördern, sowie die Entwicklung eines deutsch-französischen Zentrums für Forschung zur künstlichen Intelligenz vorgeschlagen.
Wie lauten die europäischen Prioritäten Frankreichs?
An erster Stelle stehen dabei die innere und äußere Sicherheit sowie die Verteidigung. Das historisch verankerte transatlantische Bündnis bleibt unerlässlich. Das gilt im Rahmen der NATO wie auf bilateraler Ebene. Aber Europa muss mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen, in einer Zeit, in der Krisen direkt vor unserer Tür stehen. Wir können uns hier auf eine sehr erfolgreiche deutsch-französische Zusammenarbeit stützen. So ist die „Allianz für den Sahel“ ein Beispiel dafür, dass sich Deutschland und Frankreich bei Fragen hinsichtlich der Sicherheit und Entwicklung immer weiter annähern. Diese enge Zusammenarbeit verfolgt das Ziel, die Lösung weiterer internationaler Krisen zu fördern – unter anderem in Syrien.
Eine weitere Herausforderung stellt die Migration dar, die wir nur auf europäischer Ebene angehen können. Denn nur als geeintes Europa können wir unsere Grenzen wirksam schützen, Asylberechtigte würdig aufnehmen und sie vollständig integrieren. Gleichzeitig besteht der wichtigste Schritt in der Stabilisierung und Entwicklung der Herkunftsländer. In der europäischen Außenpolitik müssen wir gemeinsam mit Afrika und unseren Partnern im Mittelmeerraum die Herausforderungen der Zukunft angehen.
Drittens wird die europäische Souveränität durch die Souveränität in Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten bedingt. Denn um die aktuellen Herausforderungen erfolgreich anzugehen, benötigt Europa unbedingt eine starke und wettbewerbsfähige Wirtschaft. Daher sind die Reform und die Verstärkung der Eurozone heute unerlässlich. Die deutsch-französische Erklärung von Meseberg vom 19. Juni 2018 setzt hier drei Schwerpunkte: die Verstärkung der Bankenunion; die Erstellung eines Haushalts für die Eurozone, der in unserer Vorstellung ab 2021 greifen sollte; und die Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), nach dem Vorbild des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Im kommenden Jahr finden ja die Wahlen zum Europaparlament statt. Einige europäische Regierungen und populistische Stimmen betonen immer wieder, dass es ohne die EU einfachere Lösungen für die vielen Herausforderungen und Krisen gäbe. Was würden Sie diesen Stimmen erwidern?
Viele Bürgerinnen und Bürger sorgen sich um die Zukunft Europas, und wir nehmen diese Sorgen sehr ernst. Deshalb brauchen wir eine entschlossene Neubegründung eines souveräneren, geeinteren und demokratischeren Europas, die Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Rede an der Sorbonne am 27. September 2017 vorgeschlagen hat. Die Bürgerinnen und Bürger müssen das Gefühl haben, dass Europa sie schützt.
Der Handelsstreit zwischen der EU und den USA ist vorerst beigelegt. Ihr Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sagte, die Landwirtschaft müsse aus den künftigen Verhandlungen herausgehalten werden. Was ist hier die große Sorge?
Frankreich und die EU befürworten seit langer Zeit ein multilaterales, regelbasiertes, freies und faires Handelssystem. Freier sowie fairer Handel und Multilateralismus, diese Schlagwörter sind hier äußerst wichtig. Frankreich hat in Brüssel eine Neugestaltung der Handelspolitik vorgeschlagen, die den folgenden Prinzipien entspricht: mehr Transparenz in den Verhandlungen; höhere soziale und ökologische Anforderungen; echte Gegenseitigkeit zwischen den Handelspartnern, zum Beispiel im öffentlichen Auftragswesen.
Was die Landwirtschaft betrifft, so hat Bruno Le Maire bereits richtig herausgestellt, dass wir in Europa Gesundheits-, Lebensmittel- und Umweltstandards sowie Produktionsvorgaben etabliert haben, an die wir uns halten, um den Schutz sowie die Sicherheit der Verbraucher zu gewährleisten. Diese Standards sind in Europa nicht verhandelbar, weshalb es wichtig ist, die Landwirtschaft aus den Verhandlungen herauszuhalten.
„Wir müssen den Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts bauen“, sagte Präsident Emmanuel Macron bei seiner Rede zur Lage der Nation. Wie Deutschland hat auch Frankreich ein eher vom Arbeitsmarkt abgekoppeltes, erwerbsorientiertes, soziales Sicherungssystem. Welche sozialpolitischen Reformen deutet Macron hier also an? Oder anders: Was stimmt denn mit dem aktuellen System nicht?
Wir wollen den Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts aufbauen, weil wir davon überzeugt sind, dass dies den Erwartungen der meisten europäischen Bürger entgegenkommen würde. Ein emanzipierender, allumfassender, effizienter Wohlfahrtsstaat, der die Bürger in die Pflicht nimmt, das heißt ein Wohlfahrtsstaat, der besser abdeckt, besser schützt und sich auf für alle gleichermaßen geltende Rechte und Pflichten stützt.
Unsere nationale Solidarität findet nicht zuletzt Ausdruck in der bedingungslosen Hilfe, die wir den Schwächsten in unserer Mitte schuldig sind. Deshalb werden wir beispielsweise alles daran setzen, um die Kinder aus der Armut und deren dramatischen Folgen herauszuholen und um die Beihilfen für unsere Mitbürger, die mit einer Behinderung leben, zu erhöhen. Ein wichtiger Schritt ist daher der Plan zur Bekämpfung der Armut, der von Staatspräsident Macron im September vorgestellt wurde. Frankreich wird acht Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren in die Bekämpfung der Armut investieren: Das heißt beispielsweise mehr Kitaplätze für Familien aus einfachen Verhältnissen, warmes Essen in der Kantine für einen Euro, aber auch mehr Lehrer in den Schulen, Schulpflicht ab drei Jahren und kleinere Klassen, wo es Probleme gibt.
Jeder Einzelne muss geschützt werden, doch jeder Einzelne trägt auch seinen Teil der Verantwortung in der Gesellschaft. Indem man nach seinen Möglichkeiten einen Beitrag leistet, wird man zum Bürger. Wir werden daher unser Solidaritätssystem so umbauen, dass es umfassender wird und die Menschen in die Verantwortung nimmt.
Das französische Hochschulsystem gilt bisweilen als elitär. Seit Juli 2018 hat Frankreich ein neues Hochschul- und Forschungsgesetz. Was hat sich seitdem verändert?
Durch das Gesetz für Orientierung und Studienerfolg wird das französische Hochschulsystem nachhaltig reformiert. Das Ziel bestand darin, Probleme wie die hohe Zahl der Studienabbrecher und oft mehrfachen Umorientierungen sowie die meist ungerechte Zuweisung von Studienplätzen per Los in stark nachgefragten Studienfächern, wie Medizin oder Psychologie, zu lösen.
Die von der Ministerin für Hochschulwesen, Forschung und Innovation Frédérique Vidal auf den Weg gebrachte Reform sieht eine mehr auf die Wünsche und Fähigkeiten der jungen Leute zugeschnittene Vergabe der Studienplätze, eine bessere Studienberatung schon am Gymnasium und die Abschaffung von Losentscheiden vor.
Des Weiteren wird die Zahl der Studienplätze weiter erhöht und die studentischen Lebensbedingungen verbessert, beispielsweise durch den Bau von 60.000 neuen Studentenwohnungen bis 2022.
In diesem Jahr finden zahlreiche Gedenkveranstaltungen anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Endes des 1. Weltkriegs statt. Welche Botschaft möchten Sie den jungen Generationen übermitteln?
Bis Ende November finden zahlreiche Veranstaltungen statt, die mehr als einen Moment des Gedenkens darstellen. Ich bin überzeugt, dass diese Gedenkfeierlichkeiten eine wichtige Gelegenheit sind, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und somit unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten. Genau darin bestand auch das Ziel der „Winning Peace“-Konferenz, die Anfang Oktober in Berlin abgehalten wurde, aber auch und vor allem des Pariser Friedensforums vom 11. bis 13. November, an dem Bundeskanzlerin Merkel mit Staatspräsident Macron, der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres sowie zahlreiche weitere Staats- und Regierungschefs teilnehmen werden. Ihr Engagement, unsere multilaterale Weltordnung und den Frieden zu stärken, ist in der heutigen Zeit von besonderer Bedeutung.
Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen – und Sie haben es bereits angesprochen: Die wichtigsten Akteure sind die Jugendlichen in ihrer Vielfalt, an die sich die Gedenkveranstaltungen dieses 100-jährigen Jubiläums in erster Linie richten. Deshalb organisiert das Institut français d’Allemagne in enger Partnerschaft mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk zum Beispiel das Projekt „100 Botschafter für den Frieden“. Die 100 jungen Botschafterinnen und Botschafter aus 100 deutschen, französischen und europäischen Schulen kommen zusammen, um sich über den Frieden auszutauschen. Somit möchten die Staats- und Regierungschefs den nächsten Generationen als wichtigste Botschaft mit auf den Weg geben, dass sie die europäischen Bürgerinnen und Bürger von morgen sind, und dass sie bei der Wahrung des Friedens eine Schlüsselrolle übernehmen. Sie werden die Zukunft sowie das friedliche Miteinander unserer beiden Länder und unseres Kontinentes gestalten.
Die französische Filmindustrie zählt seit Jahrzehnten zu den erfolgreichsten der Welt. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
In den letzten Jahren konnten zahlreiche französische Filme einen großen Erfolg in Deutschland und in der Welt feiern. Ich denke zum Beispiel an den Film von Olivier Nakache und Eric Toledano "Ziemlich beste Freunde", der im Jahr 2012 mehr als neun Millionen Zuschauer in den deutschen Kinos zog, oder an Philippe de Chauverons Komödie "Monsieur Claude und seine Töchter"! Darüber freue ich mich sehr, denn es belegt, dass unsere beiden Länder einander viel zu sagen haben. Darüber hinaus hoffe ich, dass die Zuschauer dadurch Lust bekommen, Frankreich besser kennenzulernen und unsere Sprache zu lernen, die auf allen fünf Kontinenten gesprochen wird.
Der Erfolg der französischen Regisseure und Schauspieler beruht ohne Zweifel auf ihrem Talent, aber auch auf der Kraft der französischen Filmindustrie, die auf dem Markt der Europäischen Union führend ist. Seit mehr als zehn Jahren ist sie ein Wachstumssektor: 2017 wurden beispielsweise 300 Filme in Frankreich produziert, insbesondere dank eines starken Ökosystems zur Unterstützung der Autorenfilme (ungefähr 40 internationale Autorenfilme werden pro Jahr unterstützt), aber auch dank eines starken politischen Willens. Darüber hinaus schafft diese Branche jedes Jahr mehr als 15.000 Arbeitsplätze. Frankreich gilt außerdem als „das“ Land für Autorenfilme, das zahlreiche Filmemacher aus der ganzen Welt anzieht.
Sie sind die erste Frau, die die französische Botschaft in Deutschland leitet. Gibt es zu wenige Frauen in der Diplomatie?
Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist seit 2010 eine wichtige Priorität unserer Regierungen, und Staatspräsident Macron hat beschlossen, noch weiter zu gehen. In diesem Zusammenhang möchte ich die Wirksamkeit der gezielten politischen Maßnahmen unterstreichen, die die französische Regierung seit einigen Jahren umgesetzt hat: Der Frauenanteil in Leitungs- und Führungspositionen steigt, aber es gibt noch viel zu tun.
Die Förderung des Zugangs zu Führungspositionen für Frauen in unserem Ministerium liegt mir persönlich sehr am Herzen. Durch eine Anhebung der Frauenquote bei Botschafterposten von elf Prozent im Jahr 2012 auf 26 Prozent im Jahr 2017 hat sich das französische Außenministerium für eine tiefgreifende gezielte Politik stark gemacht.
Ich selbst bin Mitglied des seit 2008 bestehenden französischen Vereins „Frauen und Diplomatie“ (Femmes et Diplomatie) in unserem Außenministerium. Dieser Verein ergreift konkrete Maßnahmen, um Frauen bei einer diplomatischen Laufbahn zu unterstützen. Insbesondere hat er ebenfalls sehr konstruktive Überlegungen zur Einführung flexiblerer Arbeitsweisen eingebracht. So kann zum Beispiel die Förderung des Homeoffice zur besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben beitragen. Außerdem werden Coachings organisiert, um die Frauen zu ermutigen, sich um Führungsstellen zu bewerben. Diese Maßnahmen, die Frauen den Zugang zu Posten mit hoher Verantwortung erleichtern, sind Teil eines umfassenderen und übergreifenden Bestrebens, das über die Geschlechterrollen hinausgeht: Der Wille, ein gesundes Gleichgewicht zwischen Privat- und Berufsleben zu finden, überschreitet Berufs- und Geschlechtergrenzen.
Die Tragweite solcher Initiativen bliebe jedoch ohne einen konkreten politischen Willen nur begrenzt. In diesem Sinne spielt der wachsende Anteil von Frauen in der Nationalversammlung eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der Regierungspolitik. Dadurch, dass Frankreich die Gleichstellung zu einer Priorität gemacht und ehrgeizige gesetzgeberische Maßnahmen eingeleitet hat, zeichnet es sich heute durch seine besonders schnellen Erfolge im Bereich der beruflichen Gleichstellung von Männern und Frauen aus.
Zuletzt eine persönliche Frage: Sie waren in den 1980er-Jahren bereits als Studentin in Berlin. Wie hat sich Ihre Sicht auf die Stadt seitdem verändert?
Als ich im Jahr 1984 zum Studieren nach Berlin kam, sah der Pariser Platz vor der französischen Botschaft ganz anders aus. Da standen hier und da ein paar Volkspolizisten, und man durfte nicht zu nah an das Brandenburger Tor herangehen, denn dahinter verlief die Mauer. Doch an anderen Orten Berlins sehe ich die Spuren von damals noch heute.
Ich habe am Herrfurthplatz in Neukölln gewohnt, lange bevor der Stadtteil hip wurde. Sehr oft besuchte ich die Staatsbibliothek, nicht weit vom Potsdamer Platz entfernt, der damals genau wie in dem Film "Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders ein riesiges Brachland war. Da ich Freunde an der französischen Botschaft in Ostberlin hatte, besuchte ich oft den anderen Teil der Stadt jenseits der Mauer und ging gerne in die Oper.
Heute freue ich mich, genau an diesem Platz zu arbeiten, der den Deutschen so teuer und heute ein Symbol für die Freiheit ist, der uns aber auch täglich daran erinnert, dass man immer wachsam bleiben und für die Grundwerte der Europäischen Union kämpfen muss.
Frau Botschafterin, vielen Dank für das Gespräch.
INTERVIEW Enrico Blasnik