Ein Schwachpunkt ist die Zusammensetzung der Aktienindizes. Die Deutsche Börse kennt nur zwei Kriterien, die überprüft werden. Es geht um den Börsenwert und die Liquidität (Handelsvolumen der Aktie). Es wird dagegen nicht bewertet, ob es Sinn macht, dass bestimmte Unternehmen in einen Index aufsteigen. Das hat bereits mehrfach zu Fehlentwicklungen geführt. Ein Beispiel: Der Solar-Boom vor rund zehn Jahren. Unternehmen wie Solarworld, Conergy oder Q-Cells eroberten erst die Schlagzeilen, dann die Aktienindizes. Es wurde nicht hinterfragt, wie nachhaltig der Boom ist. Das Ende vom Lied: Fast alle deutschen Solar-Werte sind vom Kurszettel verschwunden. Sie lösten Achterbahnfahrten in den Indizes aus. Erst steiler Anstieg, dann steiler Absturz. Gift für Privatanleger.
Ein anderes Beispiel: die Wirecard-Aktie. Wenn wir nur die nackten Zahlen betrachten, hat der Spezialist für Online-Zahlungssysteme den Aufstieg in den wichtigsten deutschen Aktienindex DAX verdient. Das große Aber: Seit mehreren Jahren ist Wirecard beliebtes Ziel der Short-Seller. Das sind Investoren, die auf fallende Kurse setzen. Der DAX-Aufsteiger Wirecard muss quasi im Jahrestakt Angriffe von seriösen, aber auch betrügerisch agierenden Short-Sellern abwehren. Bisher konnte Wirecard jeden Angriff abwehren und den Aktienkurs zu neuen Rekordhöhen führen. Direkt nach den Short-Angriffen geht es jedoch regelmäßig zweistellig nach unten. In den vergangenen Wochen sorgte eine Meldung über mögliche Manipulationen innerhalb des Wirecard-Konzerns zeitweise sogar für einen Tagesverlust von 30 Prozent. Ein unglaublicher Schlag gegen die deutsche Aktienkultur. Wie will man einem Neueinsteiger erklären, dass ein DAX-Mitglied nach Vorwürfen in einer Online-Zeitung (Financial Times) fast ein Drittel an Wert verliert? Dann spielt es auch keine Rolle, ob die Vorwürfe stimmen, teilweise stimmen oder erfunden sind.
Was passierte in Singapur?
Die Anfälligkeit von Wirecard begann schon in der Startphase. Die einfache Grundüberlegung lautet: Wer hat in der Internet-Frühphase auf Online-Bezahlsysteme gesetzt? Das waren oft Kunden aus dem Bereich „Adult Entertainment“ (Erwachsenenunterhaltung). Darunter versteht man unter anderem Angebote im Bereich Erotik und Glücksspiel. Aus dieser Phase könnten noch Leichen im Wirecard-Keller liegen. Hinzu kommt, dass sich das Wirecard-Management nicht besonders geschickt verteidigt. So lautet die Erklärung für die jüngsten Vorwürfe, dass es sich offenbar nur um einen feindseligen Streit unter Wirecard-Mitarbeitern handelte. Eine interne Prüfung habe kein Fehlverhalten entdeckt. Zur Sicherheit habe man im Mai 2018 eine Top-Kanzlei als externen Prüfer dazu geholt. Der Abschlussbericht sei in Arbeit. Eine Top-Kanzlei mit hochbezahlten Spezialisten hat nach neun Monaten noch kein Untersuchungsergebnis? Es muss keine „Bombe“ sein, aber ein harmloser Streit zwischen zwei Kollegen kann es auch nicht sein. Dann würde der Schlussbericht schon lange vorliegen. Irgendetwas muss im Büro in Singapur passiert sein. Die Variante des Streits überzeugt nicht.
Angesichts der extremen Kursschwankungen gehört die Wirecard-Aktie aus meiner Sicht nicht in den DAX. Im technologielastigen TecDax war und ist sie dagegen bestens aufgehoben. Im Wachstumssegment muss man mit größeren Schwankungen rechnen.
Über den Autor:
Der Analyst Rolf Morrien ist seit 2002 Chefredakteur des Börsendienstes "Der Depot-Optimierer" und Autor der Bücher "Wie lege ich 10.000 Euro optimal an?" und "Börse leicht verständlich".