Mit dem erhöhten Fang könne sich der Fischer bald ein zweites Boot, einen Kutter, ein Kühlhaus, eine Räucherei, eine Marinaden-Fabrik, einen Hubschrauber und ein Fischrestaurant kaufen, um sich dann, ist das alles erreicht, auf die faule Haut zu legen. Der Fischer beschwichtigt die mit freudiger Erregung vorgetragenen Ideen des Fremden und teilt ihm genügsam mit, dass er das ja jetzt auch schon mache. Der deutsche Nachkriegsschriftsteller kommentiert in seiner 1963 am Tag der Arbeit veröffentlichten Anekdote auf ironische Weise die neuen Werte aus der Wirtschaftswunderzeit der Bundesrepublik. Der Materialist der Wohlstandsgesellschaft, verkörpert durch den Touristen, trifft auf den Postmaterialisten, den armen Fischer, der das alles nicht braucht.
Ein halbes Jahrhundert später – und mehr als 50 Jahre nach der Gründung des Club of Rome und dessen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ – scheint mit der Formulierung der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (UN) eine neue Infragestellung unserer Werte begonnen zu haben. Seit den 1980er-Jahren beherrscht eine neoliberale Rationalität das Denken und Lenken staatlicher Entscheidungen. Wirtschaftswachstum lautet der Imperativ der Regierungen, auch heute noch, aber nicht mehr um jeden Preis. Mit der Millenniumserklärung aus dem Jahr 2000 haben sich die 193 UN-Mitgliedstaaten dazu entschlossen, extreme Armut zu bekämpfen, Frieden zu stiften und die Umwelt zu retten. 15 Jahre später hat die Weltgemeinschaft 17 Ziele, und eine Fülle verschiedener zugehöriger Indikatoren, für eine nachhaltige Entwicklung beschlossen, die auch Agenda 2030 genannt wird.

Die Liste idealistischer und inspirierender Ziele (oder Sustainable Development Goals, SDGs), die in diesem Weltzukunftsvertrag stecken, ist lang – 35 Seiten lang, um präzise zu sein. Das „UN-Manifest“ definiert zum Beispiel das äußerst ambitionierte entwicklungspolitische Ziel, „Armut in allen ihren Formen und überall“ zu beenden. Dazu soll bis 2030 „die extreme Armut – gegenwärtig definiert als der Anteil der Menschen, die mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen müssen – für alle Menschen überall auf der Welt“ beseitigt werden. Dies ist eine der wenigen Vorgaben, die tatsächlich möglich sein könnten, da es sich um die extremste Form der Armut handelt und die letzten Jahre für diesen vielversprechenden Entwicklungstrend sprechen. Dieses SDG kann neben der Schaffung globalen Friedens als Grundvoraussetzung für den Erfolg aller anderen Nachhaltigkeitsziele betrachtet werden. Das fünfte Ziel etwa sieht vor, die Geschlechtergleichstellung zu erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung zu befähigen. Auch die inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle stehen auf dem Programm.

Diplomatie für Nachhaltigkeit
Überall auf der Welt schießen seit nunmehr vier Jahren unzählige Veranstaltungen, Konferenzen, Projekte, Arbeitsgruppen, Task Forces und Berichte unterschiedlicher Akteure aus Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft empor, um auf das komplexe Thema in der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen und die gesellschaftliche Debatte in Bewegung zu bringen. Die Europäische Nachhaltigkeitswoche (ESDW) ist solch eine Initiative, um die Organisation unterschiedlicher Aktivitäten, die zur nachhaltigen Entwicklung beitragen, zu fördern und auf einer Informationsplattform sichtbar zu machen. An der Aktionswoche in Deutschland vom 30. Mai bis 5. Juni nahmen auch das Auswärtige Amt und zehn europäische Botschaften in Berlin teil. Im Rahmen des Mottos „Diplomacy for Sustainability“ setzten sich die Vertretungen in diversen Formaten wie Diskussionspanels, Filmvorführungen oder Spielen mit den Themen Artenschutz, Biodiversität, Energie, Emissionsreduktion, Gewässerschutz sowie internationale Zusammenarbeit auseinander.

Die Nordischen Botschaften wählten den Schwerpunkt „Agenda 2030 und nachhaltige Stadtentwicklung“ (SDG 11) und luden Ende Mai zu einem Fachseminar ein, an dem Oslos Bürgermeister Raymond Johansen, Leipzigs Bürgermeister Burkhard Jung, die isländische Ministerin für Tourismus, Wirtschaft und Innovation Thordis Gylfadottir, der Abteilungsleiter im Nordischen Ministerrat Anders Geertsen, Prof. Dr. Sigrun Kabisch vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, Katarina Luhr, Vizebürgermeisterin für Umwelt von Stockholm, Torben Gleesborg, Leitender Direktor in der technischen und Umweltverwaltung Kopenhagens, sowie Sirpa Hertell, Vorsitzende für nachhaltige Entwicklungsprogramme in Espoo, Finnland, teilnahmen. Die Stadtrepräsentanten trafen in der Diskussionsrunde auf UN-Jungdelegierte. Gemeinsam debattierten sie über Möglichkeiten, die Nachhaltigkeitsziele erfolgreich in die Stadtplanung zu überführen, und wie Jugendliche auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene in die Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse zur Agenda 2030 einbezogen werden können.
„Was zur Hölle macht denn der Diplomat den ganzen Tag?“, fragte Catherine Arnold forsch in die Runde. Arnold ist Leiterin der Abteilung „Illegaler Wildtierhandel“ im britischen Außenministerium und ehemalige Botschafterin in der Mongolei. Sie war zu Gast beim Event „Combating Illegal Wildlife Trade“ (SDG 15) der britischen Botschaft in Kooperation mit dem WWF am 5. Juni und diskutierte mit anderen Teilnehmern über die Frage, wie die Kriminalität angesichts der Wilderei von Nashörnern, Elefanten oder Reptilien verhindert werden kann. Schließlich handelt es sich hier auch um ein international organisiertes Umweltverbrechen. Damit verbundene Korruptionsstrukturen und illegale Finanzströme führen zu Konflikten und Unsicherheit und untergraben die nachhaltige Entwicklung, indem sie den Ärmsten wertvolle Ressourcen entziehen. Arnold jedenfalls verdeutlichte mit ihrer Frage, wie wichtig die Rolle der Diplomat*innen bei der Förderung der Agenda-2030-Ziele sein kann. Da Botschafter*innen ohnehin im Berufsalltag viel netzwerken, bietet sich ihnen die Chance, viele unterschiedliche Nachhaltigkeitsakteure zusammenzubringen. Dazu zählen vor allem auch Unternehmen, die nicht nur federführend im Bereich moderner Technologien, sondern generell Innovationstreiber sind. Gerade wenn es um die Finanzierung neuer Infrastrukturprojekte für sauberes Wasser, Gesundheitsversorgung oder Energiezugang für alle geht, werden öffentlich-private Partnerschaften als eine mögliche Methode angesehen, um diese zusätzlichen Mittel anzuziehen.
Ehrliche Momente
Es bleiben viele Fragen offen und hohe Erwartungen zurück. Bereits nach der Veröffentlichung der UN-Nachhaltigkeitsziele 2015 hagelte es von allen Seiten Kritik. Die Privatwirtschaft würde die Agenda 2030 für ihre Partikularinteressen nutzen. Evident sei auch ihr Demokratiedefizit: Das Wort kommt darin nicht explizit vor. In den salvatorisch verklausulierten Zielen und Unterzielen der globalen Nachhaltigkeitsagenda steckt viel Spielraum für Staaten, insbesondere autoritäre Regime, sich einfach aus der Nummer wieder auszuklinken. Es gibt keine Verbindlichkeit und keine Verantwortlichkeit. Bürgermeister würden sich zweimal überlegen, umstrittene Nachhaltigkeitsprojekte zu verwirklichen – aus Angst, diese könnten bei der nächsten Wahl Stimmen kosten. Vom US-amerikanischen Wirtschaftsprofessor William Easterly stammt der Satz: „Die SDGs werden wahrscheinlich genauso wenig zu Fortschritten führen wie die Forderungen von Schönheitswettbewerberinnen nach Frieden.“
Sind die SDGs utopisch, unerreichbar und nicht quantifizierbar? Dauert es vielleicht länger als noch zwölf Jahre, den nachhaltigen globalen Strukturwandel durchzusetzen und umweltverträgliche und ressourcenschonende Produktions- und Konsumpraktiken zu etablieren, um Armut, Hunger und vermeidbares Sterben zu verhindern? Müssen wir uns zunächst einmal mit minimalen Umsetzungsschritten zufriedengeben? Die Antwort lautet: vielleicht. Vielleicht brauchen die SDGs noch ein wenig mehr Zeit. Vielleicht braucht es noch eine Weile, bis ihre Dringlichkeit nicht nur von der Jugend erkannt wird, bis wir wie Bölls armer Fischer am Ufer dösen und nur so viel fangen, wie wir wirklich brauchen.
TEXT Enrico Blasnik