Prof. Dr. Martin Leschke "Sie sind nicht Globalisierungsverlierer, sondern "Globalisierungsverschließer""

DM: Sie beschäftigen sich an Ihrem Lehrstuhl wesentlich mit Institutionen und Institutionenökonomik. Vermitteln Sie unseren Lesern bitte vorab Ihre wissenschaftliche Definition der Institutionen. Worin liegt die Bedeutung der Institutionen für die Entwicklungsländer und die Entwicklungspolitik?

Prof. Dr. Martin Leschke (r.) auf dem Podium des Bayreuther Ökonomiekongresses 2018

Prof. Dr. Martin Leschke: Institutionen umfassen die Regeln unseres Zusammenlebens samt den Mechanismen ihrer (weitgehenden) Einhaltung. Entwicklungsrückstände gegenüber den sogenannten Industrieländern werden oft mit zu geringen Investitionen begründet. Der Institutionenökonom versucht hingegen die Gründe für geringe Investitionen und Innovationen zu ergründen: Letztlich sind es in den allermeisten Fällen defizitäre Regelstrukturen im Markt und/oder im politischen Sektor.

Mit Mitgliedern des Vereins für Socialpolitik

Was ist aus der Sicht der Institutionenökonomie die richtige Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik?

Die Interviewpartner: Prof. Dr. Martin Leschke (r.) und Dr. Helmut Schmidt, Honorarkonsul von Mali in München

Zuallererst sollte man zwischen (a) Notfallhilfe bei plötzlichen und unerwarteten Krisen und Naturkatastrophen, (b) strategisch ausgerichteter Entwicklungszusammenarbeit (EZ) und (c) Maßnahmen bei sogenannten Failed States unterscheiden.
Bei unerwarteten Katastrophen und Krisen muss man schnell und effektiv helfen, darf aber die Koordination mit anderen Ländern und mit den Helfern vor Ort nicht vergessen. Bei der strategischen EZ sollte man auf Vertragsbasis und mit hinreichender Transparenz geeignete Projekte in Angriff nehmen. Hierbei müssen zwei Dinge beachtet werden: eine geeignete Governancestruktur sowie die Bereitschaft, bei Nicht-Erfüllung die Projekte auch abzubrechen. Bei Failed States gibt es noch keine konsensfähige Strategie, wie die Weltgemeinschaft damit umgehen sollte. Vorschläge dazu gibt es aus Theorie und Praxis, die Weltgemeinschaft sollte das Problem angehen.
Außerhalb der Notfallhilfe muss es das Ziel der EZ sein, eine Basis für eine sich selbst tragende wünschenswerte Entwicklung zu schaffen. Hierbei spielen die Regeln im politischen Sektor und im Markt eine wesentliche Rolle.

In Ihrem Standardwerk „Ökonomik der Entwicklung“ schreiben Sie, die Milleniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 seien aus heutiger Sicht unerreichbar? Was ist der Grund für Ihren Pessimismus?

Das ist Realismus und nicht Pessimismus. Auch die Nachfolgeziele, die „Sustainable Development Goals“, werden nicht erreicht werden können. Sie dienen für mich als Leitlinie für die EZ. Solche Ziele sind wichtig, denn sie verdeutlichen auch die geteilten Werte der Weltgemeinschaft. Das deutsche Grundgesetz enthält auch Werte, die ständig von Deutschen verletzt werden. Trotzdem ist das Zielsystem als Richtschnur wichtig. Ich freue mich aber natürlich, wenn die Ziele durch den Einsatz geeigneter Maßnahmen, Abkommen und Governancestrukturen in einem vertretbaren Maß erreicht werden und Fortschritte erkennbar sind.

Gibt es eine Interdependenz zwischen Regierungsform und Institutionen? Können auch bei ausgeprägt autokratischen Regimen die Institutionen ökonomisch funktionieren?

Es mag Situationen geben, bei denen der Autokrat eines Landes die marktlichen Institutionen in einer Art und Weise reformiert, dass wirtschaftliche Prosperität und materieller Wohlstand die Folge sind. Man denke zum Beispiel an den chinesischen Aufschwung. Langfristig jedoch dürfte die Notwendigkeit, die Bürger an der Setzung der Regeln durch demokratische Prozesse zu beteiligen, durchschlagend sein. Wer wirtschaftliche Freiheit und Wohlstand hat, möchte auch informiert sein und die kollektiven Belange mitbestimmen. Daher wird es langfristig eine prosperierende Wirtschaft nur im Zusammenspiel mit einer Demokratie geben. Dies stellt eine Gegenthese zur Meinung der chinesischen Führung dar.

In Ihrem zitierten Standardwerk stellen Sie fest, dass die regionale Herkunft die Güte der Institutionen kaum beeinflusst. Welche anderen Faktoren bestimmen sonst die Qualität der Institutionen?

In empirischen Studien werden oft Variablen wie die religiöse Vergangenheit und die rechtliche Tradition nach ihrem Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft getestet. Diese Studien, die zumeist auf einem recht dürftigen Datenfundament beruhen, zeigen keine eindeutigen Ergebnisse. Wichtiger für mich ist daher die Frage, ob Werte wie Menschenwürde, Gleichberechtigung, Toleranz, Vertrauen, Demokratie sowie Transparenz und Offenheit respektiert und gepflegt (unterstützt) werden.

Glauben Sie, dass die Globalisierung die Entwicklungsländer wegen ihrer mangelnden Wettbewerbsfähigkeit noch weiter zurückwirft und Fortschritte erschwert?

An Ländern, denen es besonders schlecht geht, geht eher die Globalisierung vorbei. Sie sind nicht Globalisierungsverlierer, sondern „Globalisierungsverschließer“. Es sind Länder, die mit dem Philosophen Karl Popper als „geschlossene Gesellschaften“ bezeichnet werden können. Die Nicht-Öffnung – gesellschaftlich, kulturell, wirtschaftlich – ist hier das größere Problem. Entwicklungs- und Schwellenländer, die sich öffnen, sind allerdings auch stets mit den Gefahren der Globalisierung konfrontiert. Letztlich muss das Wirtschaftssystem Freiräume erlauben, das Geldsystem muss funktionieren und der Staat muss neben dem Sozialen vor allem auch die Infrastruktur- und Bildungsinvestitionen leisten. Je größer die Defizite in diesen Bereichen sind, desto gefährlicher ist eine abrupte Öffnung. Man benötigt also auch hier eine Strategie des „Phasing In“ (des Eintauchens in den internationalen marktlichen Wettbewerb).

Viele Entwicklungsländer leiden unter einer extremen Staatsverschuldung in Fremdwährungen, also via Inflation nicht zu beeinflussen. Sehen Sie hier einen Ausweg?

Ja, das Weginflationieren der Staatsschuld – ein in der Theorie nicht selten genanntes Instrument – funktioniert selten und hier schon gar nicht, wegen der Schuld in fremder Währung. Schlechte Regel- beziehungsweise Governancestrukturen, wenig private Investitionen und marode Staatsfinanzen sind eine Mischung, die zu einer Entwicklungsfalle, einem „Lock-In“ führen können. Dieser Falle kann man ohne externe Hilfe nur sehr langsam und unter großen Wohlstandseinbußen entrinnen. Die Weltgemeinschaft hat für solche hochverschuldeten Entwicklungsländer die „HIPC-Initiative“ (Heavily Indebted Poor Countries) Ende der 1990er-Jahre ins Leben gerufen. Hier wird unter Einbeziehung von Weltbank, IWF, der betroffenen Landesregierung, lokalen Vertretern und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen versucht, Pläne zu entwickeln, um die Governancestrukturen, die Investitionsbereitschaft und die Exportmöglichkeiten zu verbessern. Im Gegenzug wird ein Schuldenerlass eingeleitet. Meines Erachtens ist dies (trotz Kritik im Detail) grundsätzlich der richtige Weg, um diesen hochverschuldeten Staaten zu helfen.

2001 wurde die Initiative „New Partnership for Africa’s Development“ (NEPAD) von 15 Staatschefs ins Leben gerufen. War das Aktionismus für die Öffentlichkeit oder lässt sich hier ein effizienter Fortschritt feststellen?

Als die Afrikanische Union die NEPAD-Initiative ins Leben rief, war das für mich (und ist es nach wie vor) ein Schritt in die richtige Richtung. Es wurden Ziele für Politikbereiche sowie für die Governancestrukturen festgelegt und über den „African Peer Review Mechanism“ (APRM) wurden Regierungen konstruktiv in (öffentlich publizierten) Berichten für ihre Fehler (Abweichungen von den vereinbarten Zielen) kritisiert. Dadurch wird dann eine Fehlerkorrektur eingeleitet, genau, wie es der Kritische Rationalismus nach Karl Popper vorsieht. Leider wurde der Peer-Review-Mechanismus vor einigen Jahren von der NEPAD-Initiative abgetrennt und fungiert nun als eigenständiges Programm. Ich halte die Einheit beider Bereiche nach wie vor für richtig; denn ohne kritische Berichterstattung läuft die NEPAD-Initiative Gefahr, nur wohlklingende, zugleich aber unverbindliche Ziele zu formulieren. Der Erfolg wird letztlich davon abhängen, ob die Regierungen der afrikanischen Länder bereit sind, in einen konstruktiv-kritischen Dialog einzutreten, um institutionelle Reformen Schritt für Schritt in die Wege zu leiten.

Entwicklungshilfe sollte weniger in bloßer finanzieller Unterstützung mit Almosencharakter bestehen, sondern vor allem in der Hilfe zur Selbsthilfe. Sehen Sie diese Erkenntnis in der Praxis weitgehend umgesetzt?

Will man nicht dauerhaft Entwicklungsfortschritte extern bezuschussen, muss man auf die Leitidee „Hilfe zur Selbsthilfe“ zurückgreifen. Diese Idee findet sich ja auch in den Programmen zur Reduzierung der Armut der Weltbank und des IWF (Poverty Reduction Strategy). Die Verantwortlichkeit zur Konzeptualisierung und Durchführung vereinbarter Programme liegt genau wie die Rechenschaftspflicht bei den Entwicklungsländern selbst (Ownership, Accountability). Das muss aber auch bedeuten, dass Projekte, die schwere Defizite bei der Durchführung aufweisen, sodass ein Erfolg nicht erwartet werden kann, gestoppt werden. Dies erhöht den Anreiz für eine sorgfältige Planung und Durchführung. Zudem sollten verschiedene Konzepte für die oben genannten Bereiche Notfall- bzw. Krisenhilfe, Entwicklungszusammenarbeit sowie Hilfe für Failed States erarbeitet werden.

Nennen Sie bitte die drei wichtigsten Ratschläge, die Sie dem deutschen Entwicklungshilfeminister geben möchten.

Es reichen zwei Ratschläge. Erstens: Verantwortungstragende einer partnerschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit sollten bei allen Detailproblemen stets drei Punkte im Hinterkopf haben: Menschen machen bei politischen Entscheidungen immer Fehler, sodass unerwünschte Effekte leider stets eine Begleiterscheinung sind. Aus Fehlern muss man lernen, dass heißt die richtigen Schlüsse für neue Entscheidungen ziehen. Dies ist die Leitidee des schon erwähnten Kritischen Rationalismus. Und Lernprozesse der Akteure im Markt sowie in der Politik können nur bei entsprechenden Governancestrukturen (Regeln, Institutionen) erwartet werden. Klare Verantwortlichkeiten kann es im Markt letztlich nur über wohl definierte und durchgesetzte Eigentumsrechte und in der Politik über eine rechtsstaatliche Demokratie geben, die Transparenz schafft und die Bürger in Entscheidungen einbezieht.
Zweitens: Neben neueren Forschungsergebnissen zu Entwicklungsthemen sollte man sich daher immer mal wieder Karl Poppers schön lesbares Büchlein „Auf der Suche nach einer besseren Welt“ zur Hand nehmen und ein wenig darin lesen.

INTERVIEW Dr. Helmut Schmidt, Honorarkonsul von Mali in München