Von zu Hause Drei Silben im Frühjahr 2020

Es ist ja auch so herrlich schön da draußen, finden Sie nicht? Fürchterlich auch, oder? Frühlingserwachen in Quarantäne. Man will doch ausbrechen! Von Aufbruchstimmung kann derzeit aber nicht die Rede sein. So still, so leer, zerstobene Frühlingsgefühle. The Sound of Silence. Das ist Französisch, also Quarantäne, müssen Sie wissen. Obwohl, nein, das ist wieder Italienisch, und das wieder Latein, na ja, Sie wissen ja, wie das mit Worten so ist. Jedenfalls 40 Tage! Neuankömmlinge waren damals angehalten, 40 Tage vor der Küste an Bord des Schiffes zu verbringen, bevor sie an Land gehen durften. Damals: Da war Venedig, da war das Mittelmeer der Nabel der Welt, zumindest in Europa. Ich habe das mal in der Küche zusammengerechnet, 40 Tage sind hier bei uns am 25. April vorbei. Ich kann es gar nicht mehr abwarten. Aber, ich will mich gar nicht beklagen. Jammern auf hohem Niveau, sage ich immer. Habe ein Dach über dem Kopf, und im Supermarkt gibt es jetzt auch wieder alles, sogar Toilettenpapier. Ruhe bewahren, einen kühlen Kopf bewahren, sage ich immer. Das Leben muss ja irgendwie weitergehen. Wir hier haben's noch gut.

Wissen Sie, wie spät es ist? 

Gut, gut, ich habe noch ein bisschen Zeit. Zu Hause schaue und höre ich wieder sehr viel Nachrichten. Das Radio redet den ganzen Tag. Eine aufwühlende Zeit, nicht! Und so viel Leid und Trauer und Kopfschütteln. Furchtbare Bilder! Der Zamperoni, der gefällt mir aber. Ist es Ihnen aufgefallen? Die anderen bei den Tagesthemen haben auch so stylish gemachte Haare, tipptopp. Mein Haar hingegen ist ganz zerzaust, ich trage Mütze. Nicht so der Zamperoni. „Bleiben Sie zuversichtlich“, sagt der immer am Schluss der Sendung. Da schwingt viel Hoffnung mit. Und das braucht es nämlich überall auf der Welt. Man kriegt ja auch sehr gut mit, wie andere Länder damit umgehen. In Indien peitschen die Polizisten mit langen Stöcken die Leute auseinander, wenn sie in der Gruppe erwischt werden. In Island setzen sie Detektive ein, um Menschen mit dem Virus zu identifizieren, um sie dann zu isolieren. Frankreich ist im Krieg, hat der Macron gesagt. Spanien und Italien leiden ja besonders unter der Epidemie. Anderswo kommen Handy-Apps und Drohnen zum Einsatz. In Mexiko wurde medizinisches Personal schon schikaniert. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Auf den Philippinen will man auf all diejenigen schießen lassen, die gegen die Ausgangssperre verstoßen! Ach, du grüne Neune! In Nordkorea haben sie gerade nichts Besseres zu tun, als Raketen zu testen. Wissen die einfachen Leute dort eigentlich, dass sich die Welt um sie herum gerade einsperrt? Niederschmetternd auch die Szenen, die man in den USA sieht. Das Schlimmste steht denen wohl noch bevor, wenn das so weitergeht. Wir hier haben's noch gut, dank Bismarck.  

Oh, Gesundheit!  

Ja, Sie haben es eben ganz richtig gemacht, immer in die Armbeuge niesen, immer in die Armbeuge. Und das Händewaschen nicht vergessen. Du liebe Güte, was man den Leuten heute nicht alles erklären muss! Dabei gibt es doch das Internet. Obwohl, da kursieren auch irrwitzige und bizarre Theorien überall. Allen Ernstes glauben Leute, dass 5G-Tower das Virus verbreitet haben. Was soll man dazu noch sagen? Ich verstehe ja, dass dieser permanente Krisenmodus und die vielen richtigen und falschen Informationen einen überfordern können, dass alle für sich nach Antworten und Erklärungen suchen, aber diese Hysterie halte ich für genauso bedrohlich wie das Virus. Angst und Ignoranz ergeben ein hochexplosives Gemisch. Ich höre deshalb gern den Drosten. Das ist dieser Virologe an der Berliner Charité. Ich muss mich schon sehr konzentrieren, um ihm beim Sprechen zu folgen. Und dabei bricht er schon alles herunter für uns! So reflektiert, so besonnen und behutsam wie Katzenpfötchen.  

Ach, Sie haben einen Hund? Das wusste ich ja gar nicht. Ich sehe Sie immer ohne.  

Na, der wundert sich sicherlich auch, dass Sie so oft zu Hause sind, stimmt's? Alle sind sie jetzt in den eigenen vier Wänden: Homeoffice, wenn man das Glück hat, noch einen Job zu haben. Ja, vieles lässt sich halt doch über E-Mail klären. Ehrlich gesagt, ich bin dann ja auch immer so verdammt neugierig, finde ich es ganz nett, mal in die Wohnzimmer der anderen zu schmulen, so behaglich eingerichtet. Ein tiefer Einblick ins Private, da entsteht plötzlich so eine Form der persönlichen Nähe, finden Sie nicht? Aber wie gesagt, vieles geht einfach online, virtuelle Antrittsbesuche, Videogipfel der Staats- und Regierungschefs, ach so wichtige Businesslunchs, Seminare und so weiter. Das sollten wir im Hinterkopf behalten, für danach. Was nicht online geht, ist das Abschiednehmen von Menschen, die wir lieben. Da zerreißt's einem wirklich das Herz!  

Oh je, haben Sie vielleicht ein Taschentuch? 

Danke, verzeihen Sie, dass mir die Tränen kommen, aber das ist doch das Allertraurigste an der ganzen Geschichte. Erkrankte Menschen auf der Intensivstation, die vor dem Tod stehen und ohne Beisein der Familie und Freunde einsam sterben müssen. Familien und Freunde, die sich nicht persönlich verabschieden dürfen. Entsetzlich. Es schmerzt.  

Nein, nein, danke, es geht gleich wieder.  

Ich will auch nicht, dass wir uns mit diesem Gefühl gerade wieder trennen. Sie sind mir sehr sympathisch, das will ich Ihnen noch mit auf den Weg geben. Oh, das haben Sie schön gesagt. Ja, in der Tat, vieles kommt aktuell zum Vorschein. Die schönsten und hässlichsten Züge der Menschen, gebeutelte Gesundheitssysteme und die Folgen unseres Umgangs mit der Natur, der „immer rascheren Zerstörung von Lebensräumen“, wie es die Wissenschaftsjournalistin Sonia Shah in „LE MONDE diplomatique“ formuliert hat. Wissen Sie, dieses Virus wird uns noch viele weitere Jahre begleiten, die Welt wird eine andere sein, das hat auch Präsident Steinmeier gesagt. Ich bin mir ziemlich sicher: In der Zukunft werden sich alle erinnern, was sie im Frühjahr 2020 erlebt haben. Es wird einen prominenten Platz im kollektiven Gedächtnis der Menschen einnehmen und unsere Vorstellung über die Welt verändern. Bloß in welche Richtung? Wir werden über viele Dinge nachdenken und reden müssen. Nach der großen Pest damals kam der Humanismus. Wohl wahr, es sind aufregende Zeiten für die Wissenschaften! Nicht nur für Virologen, sondern auch für Soziologen, Politikwissenschaftler, Stadtbiologen, alle Bereiche sind gleichermaßen betroffen.  

Haben Sie noch einmal kurz die Zeit für mich, bitte? 

Da muss ich mich aber langsam sputen, die Apotheke schließt bald. Und ich würde gern dort auch noch ein wenig Plaudern. Die Angestellten sind dort so nett und hilfsbereit. Das nächste Mal, wenn wir uns treffen, sieht alles schon ganz anders aus. Bringen Sie doch mal Ihren Hund mit. Übrigens, haben Sie die glücklichen Gesichter der Menschen aus Wuhan im Fernsehen gesehen, nachdem sie die Nachricht erhalten haben, dass sie den Ort verlassen können? Ich freue mich auf diesen Tag bei uns. Dann werde ich hoffentlich auch nicht mehr an Rilkes Panther denken müssen. Ist doch verrückt, oder? Dass wir, angesichts all der Dinge, über die wir uns normalerweise streiten, erkennen, dass Zeit wirklich die wichtigste Ressource in unserem Leben ist. Nun gut, ich muss jetzt weiter. Ich wünsche Ihnen viel Kraft und alles Gute!  

 

TEXTEnrico Blasnik