InterviewWISSEN, MACHT, GESUNDHEIT, GELD … Gleichstellung in Europa

Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) mit Sitz im litauischen Vilnius beobachtet die Fortschritte in Sachen Gleichstellung innerhalb der Europäischen Union. Welche Länder hier die Nase vorn haben, berichtet die Direktorin des Instituts Carlien Scheele.

DM: Frau Scheele, Sie veröffentlichen den Gleichstellungsindex für die EU. Welche Bereiche werden untersucht?

Carlien Scheele:
Unser Gleichstellungsindex deckt sechs Hauptbereiche des Lebens ab: Arbeit, Gesundheit, Wissen, Geld, Zeit und Macht. In diesen Kernbereichen messen wir die Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter in der EU und in den Mitgliedstaaten, um die verbesserungsbedürftigen Bereiche sichtbar zu machen und die politischen Entscheidungsträger bei der Ausarbeitung effektiverer Gleichstellungsmaßnahmen zu unterstützen. Darüber hinaus bewerten wir auch den Stand der Gewalt gegen Frauen in der EU anhand verfügbarer vergleichbarer Daten.

Stärkung der Rolle der Mädchen durch Bildung: Entfaltung ihres Potenzials für eine bessere Zukunft [Photo © gpointstudio / Freepik]

DM: Wie ist die aktuelle Situation in der EU? Welche Länder und welche Bereiche sind in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter besonders erwähnenswert?

Carlien Scheele:
Im Jahr 2023 liegt die EU bei 70,2 von 100 Punkten – wobei 100 für die vollständige Gleichstellung der Geschlechter steht. Das ist der beste Wert seit der Einführung unseres Index im Jahr 2010. Schweden, die Niederlande und Dänemark stehen weiterhin an der Spitze des Index – wie schon seit einem Jahrzehnt. Doch entweder hat sich ihr Fortschritt eingependelt oder sie haben einen Punktverlust erlitten, wie wir in Ländern wie Finnland oder Frankreich sehen. Dies zeigt deutlich, dass Fortschritte nicht als selbstverständlich angesehen werden können. Sie müssen verankert und durch Maßnahmen unterstützt werden, um den Fortschritt aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite sehen wir Länder wie Italien, Portugal und Malta, die zwar unter dem EU-Durchschnitt liegen, aber in den letzten 10 Jahren große Fortschritte bei der Gleichstellung gemacht haben. Wenn die Länder also Maßnahmen ergreifen, beschleunigt sich das Tempo des Fortschritts.

Weltweit machen Frauen über 70 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen und inPflegeeinrichtungen aus [Photo © gpointstudio]

DM: Was bedeutet „geschlechtsspezifische“ Gewalt?

Carlien Scheele:
Geschlechtsspezifische Gewalt ist sowohl ein Grund für als auch eine Folge von Geschlechterungleichheit. Geschlechtsspezifische Gewalt ist jede Art von Gewalt, die auf dem Geschlecht einer Person beruht – von körperlicher über emotionale und finanzielle bis hin zu reproduktiver Gewalt. Obwohl jede/r Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt werden kann, stellen Frauen die überwältigende Mehrheit der Opfer. Um die Umsetzung der Istanbul-Konvention zu unterstützen, wird das EIGE weiterhin die Auswirkungen von Gesetzen und politischen Maßnahmen, die für geschlechtsspezifische Gewalt relevant sind, aus der Geschlechterperspektive beobachten, analysieren und überprüfen und über die Anforderungen der Istanbul-Konvention informieren.

Im Jahr 2021 waren rund 28,2 Prozent aller Führungspositionen weltweit mit Frauen besetzt, 1991 waren es 23,6 Prozent. Das heißt: Die Fortschritte in den letzten 30 Jahren waren nicht signifikant [Photo © gpointstudio]

DM: Was geschieht mit den erhobenen Daten? Werden daraus Empfehlungen für politische Entscheidungsträger?

Carlien Scheele: Das EIGE sammelt und analysiert Daten zur Geschlechtergleichstellung mit einer intersektionalen Perspektive, um politischen Entscheidungsträgern dabei zu helfen, Maßnahmen zu entwickeln, die inklusiv und transformativ sind und die Gleichstellung der Geschlechter in allen Lebensbereichen fördern. Unsere Daten sind oft die Grundlage oder Inspiration für „Ratsschlussfolgerungen“ für den Rat (wir arbeiten eng mit den sechsmonatlich wechselnden EU-Ratspräsidentschaften zusammen und haben zum Beispiel einen Bericht über „finanzielle Unabhängigkeit“ für die belgische Ratspräsidentschaft erstellt, der zu Ratsschlussfolgerungen führte, in die EIGE-Daten integriert wurden). Auch in Berichten oder Dokumenten der Europäischen Kommission oder des Europäischen Parlaments wird regelmäßig auf unsere Daten verwiesen.

DM: Frau Scheele, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Interview Marie Wildermann

DAS EUROPÄISCHE INSTITUT FÜR GLEICHSTELLUNGSFRAGEN (EIGE)

ist eine EU-Agentur, die unabhängige Forschung zur Gleichstellung der Geschlechter in der Europäischen Union betreibt. Es ist das Wissenszentrum der EU zum Thema Geschlechtergleichstellung. Durch die Bereitstellung zuverlässiger und politikorientierter Daten  und Informationen unterstützt es die EU und ihre Mitgliedstaaten dabei, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern. Das EIGE wird von der Europäischen Kommission finanziert, das jährliche Budget beläuft sich auf rund 9 Millionen Euro.