InterviewDeutschland – Chancenland?

Der OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick 2022“, der im Herbst letzten Jahres veröffentlicht wurde, fragte sowohl nach der Hochschulausbildung junger Menschen als auch nach beruflicher Bildung und Aufstiegsmöglichkeiten, z.B. zum Meister, Techniker, Erzieher o.ä. Wie ist der Befund für Deutschland? Wo hat dieses Land Nachholbedarf? Dazu der Parlamentarische Staatssekretär im Bildungsministerium Dr. Jens Brandenburg im Gespräch mit dem Diplomatischen Magazin.

DM: Herr Dr. Brandenburg, der OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick 2022“ zeigt: Deutschland braucht mehr berufliche und akademische Fachkräfte. Mit welchen Konzepten hat das Bildungsministerium darauf reagiert?
Dr. Jens Brandenburg: Knapp zwei Millionen Stellen sind derzeit in Deutschland unbesetzt. Das sind mehr als je zuvor. Daher hat die Bundesregierung die neue Fachkräftestrategie beschlossen. Wir wollen Unternehmen und Betriebe darin unterstützen, Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Die Strategie bündelt die gemeinsamen Aktivitäten der Fachkräftesicherung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Ein wesentlicher Baustein ist die Exzellenzinitative Berufliche Bildung. Damit wollen wir als Bundesministerium für Bildung und Forschung der Berufsorientierung einen deutlichen Schub geben und die Stärkung der Berufsorientierung in Deutschland vorantreiben. Einen neuen Schwerpunkt legen wir auf den Ausbau der Berufsorientierung auch an Gymnasien.

Zudem haben wir die Nationale Weiterbildungsstrategie im Schulterschluss mit unseren Partnern fortentwickelt. Wir wollen die Wege in Weiterbildung vereinfachen und digitale Chancen besser nutzen. Daher starten wir einen neuen Innovationswettbewerb InnoVET Plus und bauen so die Innovationsförderung in der beruflichen Bildung weiter ausbauen.

DM: Der Anteil der wenig qualifizierten jungen Erwachsenen ist in Deutschland gestiegen, inzwischen hat jeder Siebte zwischen 25 bis 34 Jahren keine qualifizierte Ausbildung. Das ist viel verlorenes Potential für die Gesellschaft. Welche Maßnahmen wurden auf den Weg gebracht, um das zu ändern?
Dr. Jens Brandenburg: Lassen Sie mich drei Beispiele nennen: Die Validierung non-formal und informell erworbener beruflicher Kompetenzen ist mir ein wichtiges Anliegen. Sie hilft, Menschen ohne formalen Berufsabschluss in das Bildungs- und Beschäftigungssystem zu integrieren. Mit der ValiKom-Initiative können sich Menschen mit Berufserfahrung, aber ohne formalen Berufsabschluss, an 32 Standorten und in fast 40 Berufen ihre erworbenen Kompetenzen am Maßstab eines dualen Ausbildungsberufes bestimmen und zertifizieren lassen. Sogar bis hin zum Nachweis, über Kompetenzen wie eine ausgebildete Fachkraft zu verfügen. Wir wollen in dieser Wahlperiode das Validierungsverfahren gesetzlich verankern.

Außerdem haben wir das Nachholen eines Berufsabschlusses erleichtert. Hier bietet das Instrument der berufsabschlussorientierten Teilqualifikationen die Möglichkeit, sich schrittweise bis zum Berufsabschluss qualifizieren zu lassen. Hinzu kommen die zahlreichen Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit. Wir wollen jeder und jedem Einzelnen den Weg in eine berufliche Qualifizierung ermöglichen. In dieser Frage arbeiten wir eng mit dem Budnesministerium für Arbeit und Soziales zusammen.

DM: OECD und PISA zeigen seit Jahren, dass der Bildungserfolg in Deutschland nach wie vor von der sozialen Herkunft der Kinder abhängig ist. Welche Antworten hat das Bildungsministerium auf diesen Missstand?
Dr. Jens Brandenburg: Bildungschancen dürfen nicht von der sozialen Herkunft abhängen. Mit bester Bildung wollen wir mehr Aufstiegschancen schaffen – unabhängig vom Elternhaus und Wohnort. Die Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen nehmen ab. Die monatelangen Schulschließungen während der Pandemie haben das verschärft. Hinzu kommen psychische und soziale Folgen. Das waren schwere Fehler, deren Folgen wir noch lange spüren werden.

Mit dem Startchancen-Programm wollen wir Kindern und Jugendlichen helfen, die zu Hause wenig oder keine Unterstützung bekommen. Wir machen Schluss mit dem Prinzip Gießkanne und wollen gezielt dort unterstützen, wo die Herausforderungen am größten sind. An etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler wollen wir zusammen mit den Ländern in eine attraktive Infrastruktur, in zusätzliches Personal und in Unterrichts- und Schulentwicklung investieren. Das sind wir der jungen Generation schuldig.

DM: Im akademischen Bereich liegt der Frauenanteil mit 40% unter dem OECD-Durchschnitt. Wie lässt sich der Frauenanteil erhöhen?
Dr. Jens Brandenburg: Im Wissenschaftsbereich sinkt der Frauenanteil mit jeder Stufe auf der Karriereleiter nach Studienabschluss. Nur jede vierte Professur in Deutschland ist weiblich besetzt und nur jede fünfte Hochschule wird von Rektorinnen oder Präsidentinnen geleitet. Das wollen wir ändern. Das Geschlecht und gesellschaftliche Vorurteile dürfen nicht zur Karriere- und Qualitätsbremse in der Wissenschaft werden. Das Bundesforschungsministerium trägt mit einer Reihe von Maßnahmen dazu bei, etwa durch das Professorinnenprogramm 2030, mit dem wir weiblich besetzte Lehrstühle fördern, oder mit Projekten der Förderrichtlinie ‚Innovative Frauen im Fokus‘, die Forscherinnen aller Fachbereiche öffentlich sichtbarer machen will. Wir brauchen sichtbare Vorbilder, die junge Frauen und Mädchen für die Wissenschaft begeistern. Das Tenure-Track-Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses hat als Ziel, die Chancengerechtigkeit und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Mit fast 48 Prozent liegt der Frauenanteil bei diesen Besetzungen erfreulich hoch.

Interview Marie Wildermann