Politics & StandpointsDuale Ausbildung in der Krise

Noch immer wird das deutsche duale Ausbildungssystem weltweit bewundert. Das nicht ohne Grund: Ist es doch die Grundlage für eine mittelstandsgeprägte Wirtschaft, dessen herausragende Merkmale Innovationskraft, Kreativität Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Vielfalt sind. Der Mittelstand prägt diese liberal demokratische Gesellschaft und ist Garant für ihr Fortbestehen.

Nun ticken viele kleine Zeitbomben, die in ihrer Summe diese Garantie langsam und kontinuierlich wegsprengen könnten. Seit dem Jahr 2000 gehen die Zahlen zur beruflichen Ausbildung stetig von 1,7 Mio. auf heute ca. 1,2 Mio. zurück, während im gleichen Zeitraum die Studierendenzahlen von 2,2 auf 2,9 Mio. anwuchsen, begleitet von einer eklatanten Fachkräftelücke. Diese liegt laut Institut der deutschen Wirtschaft im Zwölf-Monats-Durchschnitt von Juli 2021 bis Juli 2022 für qualifizierte Arbeitskräfte über alle Berufe hinweg bei 537.923 Stellen. Und um das explosive Gemisch noch anzureichern, werden laut einer KfW-Studie 842.000 Inhaber mittelständischer Unternehmen ihre Tätigkeit bis 2025 aufgeben. 61 % von ihnen wollen den Betrieb an einen Unternehmensnachfolger übergeben – bleibt zu hoffen, dass das gelingt. 300.000 rechnen sogar damit, den Betrieb zu schließen.

Wohlstandsverlust

Es sollte deutlich sein, dass diese Entwicklungen zu Einbrüchen in den unternehmerischen Wertschöpfungsketten und damit zu Wohlstandsverlusten führen werden. Allein Produktivitätssteigerungen aber auch Internationalisierung mit verlässlichen Partnern oder die Zuwanderung und Ausbildung ausländischer Arbeitskräfte können diesen Trend abschwächen oder umdrehen. Voraussetzung hierfür ist Bildung, Ausbildung, Qualifizierung. Aber auch hier sieht es nicht rosig aus.

Nachhilfekurse in Rechtschreibung

Fehlende Lehrkräfte, Grundschüler, die nicht richtig lesen und rechnen können, Schul- und Hochschulabbrecher, die häufig an den Herausforderungen der MINT-Fächer und der deutschen Sprache scheitern, sind die heutige Realität. Der Fachkräftemangel besonders in technischen Berufen ist ein Beispiel, die unzureichenden Fähigkeiten der Auszubildenden ein anderes, wie die NRW Polizei leidvoll feststellen muss. Um die Kommissaranwärterinnen und -anwärter zu unterstützen, werden erstmals Nachhilfekurse in Rechtschreibung angeboten.

Defizite

Nun stellt sich die Frage, was sind die Ursachen? Es ist nicht nur ein quantitatives Problem, sondern am Ende eher ein qualitatives Problem. Überbordende Bürokratisierung, das Kleinklein der Länder verhindern im Bildungssystem das, was den Mittelstand auszeichnet: Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft. Dass unsere Kinder ihre Zukunft aus den erlebten gesellschaftlichen Realitäten gestalten, ist wohl nachvollziehbar. Neben der digitalen Welt sehen sie jahrelang Lehrer, die, nicht immer, aber in der Regel, von der Schule zur Hochschule und dann wieder zur Schule gegangen sind und so nie außerschulische Erfahrungen sammeln konnten. Die Vermittlung von wirtschaftlichen Realitäten basiert dann natürlich auf rein theoretischem Wissen. Darüber hinaus eine Bildungsbürokratie, die sich Bildung im abgeschlossenen Kämmerlein ausdenkt und eine Politik, die sich nicht traut, grundlegende Veränderungen herbeizuführen. Damit wird Bildung zu einem künstlichen bürokratie-orientierten, nicht lebensfähigen Produkt. Im Kern wird ihr die Flexibilität und Kreativität genommen, sie wird immobil. Das Recht auf Freizügigkeit, sich in der Europäischen Union frei zu bewegen, dass jedem Unionsbürger grundsätzlich zusteht, in jeden anderen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, wird auf der Bildungsebene schon in Deutschland durch unterschiedliche Bildungsgesetze, Anforderungen an die Curricula und Lehrerausbildung behindert. Bildungsmobilität sowohl inhaltlich als auch physisch ist aber das Lebenselixier einer zukunftsfähigen Gesellschaft.

Was tun?

Wollen wir die Zeitzünder stoppen, braucht Deutschland dringend ein neues, grenzenüberschreitendes Denken für Bildungsstandards, Didaktik und Pädagogik, letztendlich auch Managementstandards in den öffentlichen Schulverwaltungen und eine adäquate Lehrerausbildung. Hierfür benötigen wir national gesetzte Leitplanken und Grundlagen für eigenverantwortliches Handeln der Schulen dezentral vor Ort. Das bringt Vertrauen in die Schulen zurück, gibt den Schulleitungen Handlungsspielräume und spielt die Stärken zentraler und dezentraler Strukturen aus. Dazu gehört auch, von vornherein internationale Bildungsperspektiven grenzüberschreitend einzubeziehen und damit auch die Voraussetzungen für internationalen Bildungsaustausch und Bildungsmobilität zu schaffen.

Transfergut Bildung

Es wurde häufig versucht, das duale Ausbildungssystem zu exportieren und damit auch den Boden für die Internationalisierung von mittelständischen Unternehmen zu bereiten, aber auch den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Regelmäßig ist das gescheitert. In erster Linie an dem Missverständnis, Mittelstand als kleine und mittlere Unternehmen zu verstehen, ohne seine kulturellen Merkmale, die über Jahrhunderte entstanden sind, zu berücksichtigen. Und wir haben vergessen, dass Bildungstransfer nicht einseitig verläuft, sondern nur bidirektional funktioniert. Das bedeutet, dass beide Seiten das Transfergut Bildung beeinflussen und nur auf Augenhöhe ein „neues“ erfolgreiches Bildungsprodukt, entsprechend den unterschiedlichen Bildungskulturen und Wirtschaftsstrukturen, entstehen kann.

Bildungsmobilität

Bildungszukunft ist ein reger Austausch zwischen verschiedenen Systemen wie Austausch von Schülern, Auszubildenden, Lehrern und Unternehmen – also Bildungsmobilität. Das Abschotten unseres Bildungsmarktes wird zu Bildungsimmobilität führen. Wir müssen die harten formalen Bildungsgrenzen zwischen den Ländern niederreißen und sollten damit zuerst in Deutschland anfangen. Ziel ist es, Fachkräfte dann auch international aufzubauen und die Bedarfe sowohl in den Partnerländern als auch Deutschland zu decken. Wir geben damit dem Mittelstand die Chance, qualifizierte Fachkräfte zu bekommen, sich wettbewerbsfähig national und international aufzustellen und unseren Partnern in der Welt die aktive wertschätzende Teilhabe an einem Erfolgsmodell zu ermöglichen.

Nationaler Bildungsplan

Wir brauchen eine nationale und internationale Bildungsinitiative, die Bottom-Up funktioniert und die (internationale) Blickwinkel der Bildungsakteure als Maßstab nehmen. Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, die Wirtschaft und besonders der Mittelstand, Bildungsexperten und viele mehr sind gefragt und müssen gemeinsam den „Nationalen Bildungsplan“ entwickeln. Nur so werden wir Demokratie und Wirtschaft in eine sichere Zukunft führen.

Text Prof. Dr. Martin Wortmann