InterviewWelche Länder haben die Nase vorn?

Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung für alle Menschen – so definiert die UN das ehrgeizige Ziel für die Nationen dieser Welt. Welche Fortschritte die einzelnen Länder in dieser Hinsicht machen, wird jährlich von der OECD gemessen, zuletzt in der Studie „Bildung auf einen Blick 2022. In dieser Untersuchung lag ein Schwerpunkt auf dem Tertiärbereich. Was das ist, erklärt Andreas Schleicher, Sonderberater für Bildungspolitik bei der OECD. Außerdem wollten wir von ihm wissen, welche Länder bei der Bildung die Nase vorn haben und welche besonders schlecht abschneiden. Warum das gar nicht so einfach zu beantworten ist - auch das haben wir im Gespräch mit dem Bildungsexperten Andreas Schleicher gelernt.

DM: Die Studie „Bildung auf einen Blick 2022“ konzentriert sich auf den tertiären Bildungsbereich. Was bedeutet tertiäre Bildung?
Andreas Schleicher: Der Begriff Tertiärbildung bezieht sich auf die Hochschulbildung, die Studierende in der Regel nach einer 12- bis 13-jährigen Grund- und Sekundarschulbildung absolvieren. Die akademische Ausbildung an Universitäten ist ein wichtiges Element der tertiären Bildung, aber der Begriff umfasst auch die fortgeschrittene Berufsausbildung und die berufliche Bildung.

Die tertiäre Bildung wird immer vielfältiger. In den letzten Jahren haben sich in einigen Ländern Kurzstudiengänge von zwei Jahren oder weniger durchgesetzt. Auch kürzere Programme mit Mikrozertifikaten, die die erfolgreiche Teilnahme an Kursen zu einer bestimmten Qualifikation bescheinigen, werden in naher Zukunft wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen. Auch das Angebot an tertiärer Bildung verändert sich rasch. In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der MOOCs (Massive Open Online Courses), die Hochschulkurse für ein nahezu unbegrenztes Publikum online verfügbar machen, stark zugenommen.

DM: Was versteht die OECD unter "hochwertiger Bildung"? Ist es der höchstmögliche Schulabschluss? Ein Universitätsabschluss?
Andreas Schleicher: Ein Abschluss ist ein enger Maßstab für die Qualität der Bildung. Die Qualität der Bildung wird durch das Rüstzeug bestimmt, das sie einem Lernenden gibt, um einen guten Job zu finden, ein erfülltes Leben zu führen und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. In den OECD-Ländern wird der Abschluss der Sekundarstufe II (d. h. 12-13 Jahre Bildung) häufig als Mindestanforderung für eine erfolgreiche Teilnahme am Arbeitsmarkt angesehen. Direkte Messungen von Kenntnissen und Fähigkeiten wie das OECD-Programm zur internationalen Schülerbeurteilung (PISA) und die OECD-Erhebung über die Fähigkeiten von Erwachsenen (PIAAC) liefern weitere Maßstäbe für die Qualität der Bildung.

DM: Welche Länder haben eine hervorragende tertiäre Bildung?
Andreas Schleicher: Exzellenz in der tertiären Bildung hat viele Dimensionen. Sie umfasst zum Beispiel:

  • Die Fähigkeit des Systems, einer großen Zahl unterschiedlicher Studierender relevante und fortgeschrittene Fähigkeiten zu vermitteln
  • Hohe Abschlussquoten
  • Eine gute finanzielle Ausstattung und eine effiziente Verwendung der Mittel
  • Angemessene finanzielle Unterstützung für Studierende mit geringem Einkommen
  • Gute Übergänge in den Arbeitsmarkt
  • Widerstandsfähigkeit und Fähigkeit, schnell auf sich verändernde Arbeitsmärkte zu reagieren
  • Internationale Mobilität der Studierenden

Die einzelnen Länder schneiden in den verschiedenen Dimensionen unterschiedlich gut ab. Im Vereinigten Königreich beispielsweise schließen 85 % der Bachelor-Studenten ihren Abschluss innerhalb von drei Jahren nach der vorgesehenen Dauer ab, was weit über dem OECD-Durchschnitt von 68 % liegt. Die Niederlande schneiden beim Übergang von Hochschulabsolventen in den Arbeitsmarkt außergewöhnlich gut ab. Weniger als 5 % der 25- bis 29-Jährigen mit Hochschulabschluss befinden sich nicht in Ausbildung, Beschäftigung oder Training, verglichen mit mehr als einem Drittel in Griechenland. Was die Finanzierung angeht, so ragen Chile, Kanada und die Vereinigten Staaten heraus, die jeweils mehr als 2 % ihres BIP für die tertiäre Bildung aufwenden, während fünf andere OECD-Länder weniger als 1 % ihres BIP investieren. Die nordischen Länder zeichnen sich durch ihre großzügige Unterstützung für Studierende aus.

DM: Und welche Länder schneiden besonders schlecht ab?
Andreas Schleicher: In allen Ländern gibt es Bereiche, in denen die tertiären Bildungssysteme verbessert werden können. In vielen Ländern verhindern ein erschwerter Zugang zur tertiären Bildung insbesondere Studierende mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund daran, einen Hochschulabschluss zu erwerben. Dies führt zu niedrigen Abschlussquoten im tertiären Bereich und anhaltenden Ungleichheiten in der Gesellschaft.

Im Gegensatz dazu gibt es in anderen Ländern eine hohe Zahl von Hochschulabsolventen, die jedoch Schwierigkeiten haben, genügend Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass die Lehrpläne im tertiären Bereich zu weit von den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entfernt sind. Auch sind die von den Studenten gewählten Studienfächer oft nicht die, die von den Arbeitgebern gesucht werden. Beide Probleme schränken den wirtschaftlichen Wert der tertiären Bildung ein und wirken sich negativ auf die Beschäftigungsaussichten der Absolventen aus.

DM: Grundsätzlich gefragt: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Bildungssystem besonders effektiv ist? Und welches Land hat ein sehr gutes Bildungssystem?
Andreas Schleicher: Ein effektives Bildungssystem ist gerecht, ermöglicht es dem Einzelnen, seine persönlichen und beruflichen Ziele im Leben zu erreichen, und trägt zur Gesellschaft bei, indem es wirtschaftliches, soziales und kulturelles Kapital schafft.

Um diese Ziele zu erreichen, muss ein Bildungssystem Chancen für alle bieten, unabhängig von ihrer Herkunft. Das beginnt mit einer qualitativ hochwertigen frühkindlichen Bildung, die für Kinder aus benachteiligten Familien unerlässlich ist. In den meisten OECD-Ländern liegt die Einschulungsquote für Kinder im Alter von 3 bis 5 Jahren bei über 90 %. In vielen Ländern liegen die Einschulungsquoten für jüngere Kinder jedoch deutlich unter 50 %.

In der Primar- und Sekundarschulbildung müssen Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen der Schüler, einschließlich Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten, sowie Handlungskompetenz, Ausdauer und Widerstandsfähigkeit vermittelt werden. Die PISA-Studie zeigt, dass Länder wie Singapur und Estland in einigen dieser Bereiche hervorragende Leistungen erbringen.

Ein effektives Bildungssystem muss auch auf externe Veränderungen wie Digitalisierung und Automatisierung reagieren und lebenslanges Lernen mit Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung und Umschulung fördern. Die Bildungssysteme, die sich am besten an diese Herausforderungen anpassen, werden die besten Bildungssysteme der Zukunft sein.

Interview Marie Wildermann