Business & TrendsWohin steuert die deutsche Wirtschaft?

Die Unternehmenslenker mittelständischer Weltmarktführer trafen sich Anfang Februar 2023 nach längerer Pause zum Meinungs- und Informationsaustausch in – der laut Oberbürgermeister Daniel Bullinger geheimen Metropole – Schwäbisch-Hall im Bundesland Baden-Württemberg.

Für Dr. Markus Steilemann, Vorstandsvorsitzender der Covestro AG, führender Hersteller von Polymer-Werkstoffen, ist die Energiekrise nur der Brandbeschleuniger von Defiziten in Deutschland. Als Hochpreisenergieland würden energieintensive Industrien an den Rand gedrängt, hierzu zählten die Chemie- und Zementindustrie ebenso wie Metallerzeugung und -verarbeitung, Glas und Keramik, Steine und Erden. Schon jetzt sei aufgrund der billigeren Windkraft bei diesen Industrien innerhalb Deutschlands ein Trend zur Verschiebung von Süd nach Nord erkennbar. Erdgas- und Strompreise würden auch in den nächsten Jahren über denen der USA liegen. Die US-Gesetzgebung zur Förderung innovativer Industrien war weiteres Thema. Die USA haben klare und leicht nachrechenbare Fakten geschaffen, anders als die Europäische Kommission. Deutschland und Europa müssten die Nachfrage halten, um attraktiv zu bleiben. Ist die deutsche Innovationspolitik zu sehr in der Vergangenheit verhaftet? Der Vorwurf, Deutschland würde hinter anderen Ländern zurückbleiben, fiel des Öfteren. Ein Innovationsruck wurde gefordert.

Russische Wirtschaft

Zugeschaltet war u.a. Maxim Kireev, freier russischer Journalist. Westlichen Maßnahmen zum Trotz werde die russische Wirtschaft im Jahr 2023 wohl wachsen, die Rüstungsbetriebe liefen auf Hochtouren, auch aufgrund der Mobilisierung der Armee herrsche eher Mangel an Arbeitskräften. Natürlich gebe es Verlierer durch die Sanktionen, wie die Chemie- und Halbleiterindustrie. Viele Defizite würden aber durch Partner in China und in der Türkei kompensiert, gerade bei Importen elektronischer Artikel. Ob es Widerstand in der russischen Industrie gebe, lautete eine Frage an den Journalisten. Eher nein, war die Antwort, gerade kleine Unternehmer hätten Angst, dass ihr Lebenswerk zerstört werden könnte.

Lieferkettengesetz

Kritik äußerten Redner an dem nunmehr geltenden Lieferkettengesetz. Das verpflichtet deutsche Unternehmen, die Einhaltung von Compliance-Regeln ihrer ausländischen Lieferanten zu überwachen. Deutschland wird als Land mit hohen moralischen Werten gesehen, aber ein Aufzwingen deutscher Vorstellungen werde im Ausland skeptisch betrachtet. Die Einhaltung der Menschenrechte wurde von allen Vertretern als hohes Gut gesehen – es gehe aber um die Ausgestaltung der Compliance-Regelungen. Die Europäische Kommission plane übrigens eine noch schärfere Fassung der Lieferregelungen. Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrats der Bundesregierung, der sogenannten fünf Weisen, sah sich als Überbringerin schlechter Nachrichten. Die Industrie verbrauche knapp ein Drittel der deutschen Energie, Energieeinsparungen hätten funktioniert. So sei Entspannung bei den Großhandelspreisen für Energie erkennbar. Die Energieintensität der deutschen Industrie werde zurückgehen, der Strukturwandel hin zu Dienstleistungen werde sich fortsetzen. Das deutsche Ziel der „grünen Energie“ sei positiv, gefordert würden aber mehr Anreize als Verbote. Neue digitale Dienste müssten drei Fragen plausibel beantworten: Bedient das neue System ein Kundenbedürfnis? Bezahlt der Kunde für diese Leistungen? Ist das System technisch skalierbar?

Entglobalisierung?

Notwendig sei die Verringerung von Abhängigkeiten ganzer Regionen. Von 30 benötigten Edelmetallen kämen zum Beispiel 14 zu hundert Prozent aus China – ein ungesundes Verhältnis. Für Martin Schwarz, Vorstand der Stihl AG, sei Rumänien als Standort eines neuen Werkes auch deshalb interessant, weil Rumänien Mitglied der Nato ist. Der Mittelstand halte trotz vieler aktueller Themen am Ziel der Klimaneutralität fest. Das Thema „Nachhaltigkeit“ war ein weiteres bestimmendes Thema der Veranstaltung. Neben der langfristigen stärkeren Unabhängigkeit wird Klimaneutralität von vielen Unternehmen auch als Wettbewerbsvorteil gesehen. Warnungen gab es für die Zögerer, so entstünden beispielsweise Risiken, wenn Unternehmen sich nicht auf den Weg machten. Der Arbeitskräftemangel werde sich fortsetzen, im Jahr 2023 werden in Deutschland erstmals mehr Menschen in Rente gehen als Jüngere volljährig werden.

Politische Agenda?

Als Vertreter der Politik gab der Staatssekretär im Bundeskanzleramt Dr. Jörg Kukies, zuständig für wirtschaftliche Fragen, aktuelle Einblicke. Deutschland hat im abgelaufenen Jahr zwar den Export gesteigert, der globale Anteil ging aber zurück. Bis 2030 sollen neue Gaskraftwerke mit einer Leistung von 17 bis 21 Gigawatt entstehen. Partnerschaften mit Lateinamerika, Afrika und dem Mittleren Osten sollen ausgebaut werden. Das aktuelle Fachkräfteeinwanderungsgesetz werde vereinfachte Möglichkeiten für ausländische Arbeitnehmer gewährleisten. Unterstützt wird die Diversifizierung außerhalb Chinas. Die globale Ernüchterung werde auch von der Bundesregierung gesehen, es werde aber auch die Frage gestellt, wohin die Diversifizierung gehen solle. Die deutsche Industrie sei bereits jetzt überall in der Welt vertreten.

Text Ferry Wittchen