Interview mit Jörg Sommer "Die beste Antwort auf Populismus lautet Partizipation"

Herr Sommer, als Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung engagieren Sie sich schon seit über 30 Jahren. Seit August 2017 auch beim Berlin Institut für Partizipation, dessen Gründungsdirektor Sie sind. Wie ist das Institut entstanden?

Die Deutsche Umweltstiftung ist die älteste deutsche und mit über 3.500 Stifterinnen und Stiftern auch mit großem Abstand die am breitesten getragene Bürgerstiftung Deutschlands. Als ihr Vorsitzender bin ich quasi an der Schnittstelle zwischen Politik und Bürgerschaft tätig. Ich konnte deshalb aus erster Hand beobachten, wie unsere repräsentative Demokratie in den vergangenen Jahren einem beständigen Erosionsprozess unterlag. Wir beobachten eine zunehmende Verweigerung vieler Bürgerinnen und Bürger bezüglich der Teilnahme an Wahlen auf allen politischen Ebenen. Politisches Desinteresse wiederum wird begleitet von rasanten Erfolgen für populistische und (schein-)radikale Parteien sowie in Einzelfällen geradezu explosionsartig anwachsenden Bürgerprotesten, die zu scharfen Konflikten führen und unsere aktuellen politischen Strukturen und Akteure überfordern.

Klassische Politikkonzepte, die davon ausgehen, dass demokratisch gewählte politische Eliten in der Lage sind, sämtliche für die Gesellschaft wichtigen Entscheidungen zu treffen, die anschließend auch eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung finden, funktionieren so nicht mehr. Meine tiefe Überzeugung ist, dass wir die Errungenschaften einer demokratischen Gesellschaft bewahren müssen, indem wir die demokratischen Strukturen und Prozesse weiterentwickeln. In der Politik gilt die gleiche Grundregel wie in der Wirtschaft und in der Natur: Es gibt keine Statik. Nur was sich beständig weiterentwickelt, hat eine Zukunft. Stagnation bedeutet Untergang. Wenn wir unsere Demokratie also zukunftsfähig machen wollen, müssen wir sie weiterentwickeln. Die Bürger Europas sind heute gebildeter und informierter als jemals zuvor, sie erwarten mehr politische Teilhabe weit über den Wahlzettel hinaus. Wenn unsere politischen Strukturen diese Erwartungen erfüllen, haben sie eine Zukunft.

Ich habe vor zwei Jahren dazu ein längeres Interview gegeben, die Reaktion darauf war überwältigend und führte zu einem längeren Diskurs, an dem sich zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft, Bürgerinnen und Bürger sowie Politikwissenschaftler beteiligten. Dabei wurde die Gründung eines Thinktanks für Partizipation angeregt, der dann zur Gründung des Berlin Instituts für Partizipation im Sommer 2017 führte. Der ganze Prozess ist sehr transparent auf der Webseite des Instituts www.bipar.de dokumentiert.

Das Institut für Partizipation ist politisch unabhängig und engagiert sich für die partizipative Weiterentwicklung der demokratischen Gesellschaft. Welche Ausrichtung hat das Institut, und wie kann man Mitglied werden?

Das Institut arbeitet advokativ, seine Aufgabe ist es, Erkenntnisse aus der Praxis und der Wissenschaft – darunter auch aus eigenen Studien – so aufzubereiten, dass die Entscheider in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dabei unterstützt werden, neue, ergänzende Formen demokratischer Teilhabe zu ermöglichen. Dazu gehören neben direktdemokratischen Strukturen auch Formen von Stakeholder- und Bürgerbeteiligung, aber auch die Demokratieerziehung in der Bildungspolitik, wobei wir den Ansatz haben, dass man Demokratie nicht lehren, sondern nur in der Praxis einüben kann. Ein breites Feld unserer Arbeit nimmt die Evaluation von Methoden, Prozessen und Strukturen ein, denn wir glauben, dass wir nur dann mehr Beteiligung generieren können, wenn wir auch bessere Beteiligung anbieten. Am Ende geht es darum, dass unsere Bürgerinnen und Bürger Selbstwirksamkeit erfahren. Das macht die Menschen und die Demokratie gleichermaßen stark. Deshalb laden wir alle Interessierten aus Praxis, Politik und Wissenschaft ein, assoziiertes Mitglied des Instituts zu werden. Unsere eigene Arbeitsweise ist selbstredend sehr beteiligungsorientiert. Alle Vorhaben werden von ehrenamtlichen Arbeitsgruppen begleitet und koordiniert. Die Mitgliedschaft kann online beantragt werden, sie ist übrigens beitragsfrei.

Partizipationsprozesse finden auch zunehmend online als sogenannte „E-Partizipation“ statt. Was sind die Vor- und Nachteile dabei?

Die E-Partizipation ist ein komplexes Feld. Einerseits ermöglicht sie – theoretisch – breiten Bevölkerungskreisen eine unmittelbare Teilhabe, andererseits ist sie leicht manipulierbar (was auch häufig vorkommt), zudem oft sehr komplex und damit sozial sehr selektiv. Das heißt, es beteiligen sich häufig nur junge, gebildete, engagierte Teile der Bevölkerung, also genau jene, die ohnehin schon über politischen Einfluss verfügen. Noch dazu fördert die E-Partizipation bei politischen Entscheidern die Versuchung, sich dem Diskurs selbst zu entziehen, den Prozess an einen Dienstleister auszulagern und sich nur die Ergebnisse aufbereiten zu lassen. So funktioniert Beteiligungskultur aber nicht. Sie lebt nicht zuletzt auch vom unmittelbaren Dialog zwischen politischen Entscheidern und Betroffenen. Das ist nicht immer schmerzfrei, aber unumgänglich. E-Partizipation macht also dann Sinn, wenn sie in einen Prozess integriert ist, der diese Anforderungen erfüllt.

Sie sind auch beratend zum Thema Bürgerbeteiligung in diversen europäischen und außereuropäischen Ländern tätig. Wie schätzen Sie das internationale Interesse an diesem Thema ein?

Das Interesse ist groß. Ich verbringe einen guten Teil meines Jahres im Ausland. Erst kürzlich war eine chinesische Regierungsdelegation in Berlin, die sich sehr genau über die Beteiligungsformen und -erfahrungen in Deutschland informieren ließ. Selbst Politiker aus der Schweiz, die ja eine lange direktdemokratische Tradition hat, sind sehr an unseren deutschen Beteiligungsprozessen interessiert. Wir beobachten ja international ähnliche Herausforderungen in nahezu allen demokratischen Gesellschaften.

Ihr Institut beschäftigt sich unter anderem mit Politik und Verwaltung, der Energiewende, der Stadtentwicklung oder der Frage, wie man Jugendliche für Wahlen begeistert. Welches Beispiel würden Sie im ersten Jahr des Bestehens Ihres Instituts hervorheben wollen?

Beteiligung ist ebenso vielfältig wie die Menschen und ihre Themen. Ich würde deshalb weniger ein Beispiel herausheben, sondern auf eine spannende Initiative verweisen: Seit Sommer vergangenen Jahres koordiniert unser Institut die relativ junge „Allianz Vielfältige Demokratie“. In ihr arbeiten über 170 Experten und Vertreter von Kommunen, Landesregierungen, Bundesministerien, Verbänden, Universitäten und Parteien zusammen daran, neue Beteiligungsformen zu entwickeln, zu erproben und so aufzubereiten, dass sie breit einsetzbar sind. Die Allianz versteht sich ganz bewusst als Treiber für mehr und auch vielfältigere Demokratie, gerade auch in Reaktion auf populistische Entwicklungen. Denn die beste Antwort auf Populismus lautet Partizipation.

Kürzlich hat Ihr Institut die „Simulation Europäisches Parlament (SIMEP)“ vorgestellt, bei der Anfang 2019 über 400 Schüler im Abgeordnetenhaus von Berlin in die Rolle von EU-Abgeordneten schlüpfen werden. Welche Effekte erhoffen Sie sich von dem Planspiel?

Demokratiepädagogik ist ein stark diskutiertes Feld, gerade vor dem Hintergrund des bereits angesprochenen Populismus. Wie eingangs erwähnt, kann man aber Demokratie nicht lehren wie Mathematik oder Fremdsprachen. Demokratie muss man selbst erleben, Interessenskonflikte selbst erkennen, selbst nach Lösungen suchen, Diskussionen führen, Argumente gewichten, Erfolge erringen und mit Niederlagen leben lernen. Handlungsorientierte Planspiele sind dafür ein extrem wirkungsvolles Labor. Sie ermöglichen die Wahrnehmung von Selbstwirksamkeit, zeigen aber auch uns Erwachsenen, dass junge Menschen bereits über hohe demokratische Kompetenzen verfügen. Das führt, hoffentlich, eines Tages auch zu mehr Demokratie in unseren Bildungsinstitutionen. Denn Planspiele können die Alltagserfahrungen letztlich nicht ersetzen. Wir brauchen mehr Demokratieerfahrungen in allen Lebensbereichen. Das macht unsere Demokratie stark.

Zusammen mit Ihrer Frau Gerit Kopietz schreiben Sie zudem seit vielen Jahren Kinder- und Jugendbücher, die bisher eine Gesamtauflage von über drei Millionen Exemplaren erreicht haben. Was gefällt Ihnen daran besonders?

Meine politische Arbeit ist oft kompliziert, häufig frustrierend und fast immer sehr langfristig. Als Autor können Sie Ihre Leser direkt mit den Themen konfrontieren, die Ihnen am Herzen liegen, sie erschaffen Ihre eigene Wirklichkeit, Ihre eigenen Akteure, Ihre eigenen Lösungen – und können, ja müssen das dramaturgisch verdichten. Das Schreiben eines Buches ist also ein Stück weit Eskapismus, genau wie das Lesen. Nur weitaus lustvoller. Für Kinder und Jugendliche zu schreiben, ist dabei weitaus anspruchsvoller als für Erwachsene. Wenn sie Erwachsenen bei einer Autorenlesung einen langweiligen Vortrag liefern, ernten sie am Ende dennoch höflichen Applaus. Wenn Sie Kinder nicht mitnehmen, fängt es nach zwei Minuten im Publikum an zu rascheln, zu scharren und zu gähnen. Kinder sind gnadenlos ehrliche Kritiker. Und die eigenen sind die gnadenlosesten. Meine Frau und ich haben vier Kinder, die haben uns so manches Manuskript zerpflückt, das es deshalb nie zwischen Buchdeckel geschafft hat.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Für dieses Jahr habe ich mir weniger vorgenommen. Weniger von allem: weniger Stress, weniger Reisen, weniger Veranstaltungen. Aber ich fürchte, diese Vorsätze werden sich nur schwer realisieren lassen. Unser Institut entwickelt sich recht stürmisch, wir haben zahlreiche Anfragen aus dem In- und Ausland und planen in diesem Jahr die Etablierung eines breit nutzbaren Qualitätsmanagementsystems für gute Beteiligung, dazu zahlreiche Publikationen. Wenn ich das so höre – ich würde sagen, streichen Sie das mit den Vorsätzen.

INTERVIEW Markus Feller