Interview„Deutschlands Abhängigkeit von China ist ähnlich hoch wie unsere vor zehn Jahren“

Beim EU-Japan-Gipfel in Brüssel im Juli wurde über eine engere Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik beraten, denn der Ukraine-Krieg hat auch in Japan, der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt, zu einer Veränderung in der Sicherheitsstrategie geführt. Mit welchen Bedrohungen Japan konfrontiert ist und wie sein Land mit der langjährigen wirtschaftlichen Abhängigkeit von China umgeht, darüber hat der japanische Botschafter in Deutschland, S.E. Hidenao Yanagi, mit dem Leiter des Ressorts Außenpolitik der Tageszeitung „Die Welt“ gesprochen.
 

Klaus Geiger: Herr Botschafter, die Geschichte von Deutschland und Japan weist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts große Parallelen auf. Beide Staaten waren Aggressoren und Verlierer des Zweiten Weltkriegs, verwandelten sich unter dem Schutz der USA in liberale Demokratien – und sind heute ökonomische Riesen und militärische Zwerge. Der Schock der Ukraine-Invasion führt nun in beiden Ländern zu einem Umdenken beim Militärischen, zu einer Zeitenwende...
S.E. Hidenao Yanagi: Wir verwenden das Wort Zeitenwende nicht. Weil wir schon seit über zehn Jahren in Ostasien mit Bedrohungen und Herausforderungen konfrontiert sind. Nordkorea verfolgt sein Atom- und Raketenprogramm und China dringt wiederholt in unsere Hoheitsgewässer ein. Aber ja, der Angriff auf die Ukraine hat auch bei uns dazu geführt, dass wir unsere nationale Sicherheitsstrategie erneuert haben. Wir wollen unseren Haushalt für Verteidigung bis 2027 auf dann zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts vergrößern.
 

Klaus Geiger: Im Moment ist es nur etwa ein Prozent. Sie sagen, Sie sehen die Gefahren schon seit zehn Jahren. Haben Sie denn auch Ihre ökonomischen Abhängigkeiten gegenüber Autokratien früher reduziert als Deutschland? Die Bundesregierung hat in ihrer Russlandpolitik aus wirtschaftlichen und vermeintlich historischen Gründen lange alle Gefahren negiert.
S.E. Hidenao Yanagi: Für uns ist die Abhängigkeit von China das zentrale Thema. Bei den Seltenen Erden lag sie vor einem Jahrzehnt bei 90 Prozent. Schon 2012 führten die Spannungen um die Senkaku-Inseln, die unser Territorium sind, in China zu großen Demonstrationen gegen japanische Kaufhäuser und Fabriken. Seitdem verfolgen wir die „China-plus-eins“-Politik. Jedes japanische Unternehmen soll neben China in einem weiteren Land investieren. In der Regel sind es Länder wie Thailand, Vietnam, Indien oder Indonesien.
 

Klaus Geiger: „De-Risking“ ist auch in Deutschland das Stichwort mit Blick auf China seit der Ukraine-Invasion. Gibt es Interesse an den japanischen Erfahrungen und der „China- plus-eins“-Strategie bei der Bundesregierung?
S.E. Hidenao Yanagi: Ja, absolut. Deutschlands Abhängigkeit von China bei Seltenen Erden ist ähnlich hoch wie unsere vor zehn Jahren. Zugleich reglementiert China inzwischen den Export. Weil diese Elemente für den Bau von E-Autos gebraucht werden, ist das Interesse der deutschen Firmen sehr hoch, ähnlich wie Japan nach Alternativen zu suchen.
 

Klaus Geiger: Bis zur Ukraine-Invasion waren japanische Regierungsvertreter hinter vorgehaltener Hand nicht glücklich, dass Deutschland sehr stark auf China blickte und relativ wenig auf Japan. Hat sich das im vergangenen Jahr geändert?
S.E. Hidenao Yanagi: Ich möchte nicht sagen, dass wir zuvor unglücklich waren. Aber wir begrüßen sehr, dass die Ampel schon im Koalitionsvertrag vereinbart hat, die Kooperation mit Japan und den anderen demokratischen Ländern im Indopazifik zu verstärken. Seit dem Angriff auf die Ukraine sind die Beziehungen dann sehr eng geworden. Bundeskanzler Olaf Scholz hat Japan im April 2022 als erstes Reiseziel in Fernost ausgesucht. Insgesamt war der Bundeskanzler in 13 Monaten drei Mal in Japan. Es gab im März die ersten Regierungskonsultationen zwischen unseren Ländern. So intensiv war der Austausch nie.
 

Klaus Geiger: Deutschland steht unter dem Schock des Ukraine Krieges. In Asien hört man hingegen oft, dass es sich um einen Regionalkonflikt handle. Dass die Front des neuen Kalten Krieges durch die Taiwan Straße verlaufe. Sehen Sie das auch so?
S.E. Hidenao Yanagi: Am 21. März hat unser Premierminister Fumio Kishida die Ukraine besucht. Am selben Tag stattete Präsident Xi Jinping Moskau einen Besuch ab. Die beiden Besuche zeigen nicht nur, wer in dem Konflikt auf welcher Seite steht, sondern auch, dass Sicherheit in Europa und im Indopazifik untrennbar verbunden ist. Russlands Invasion ist eben nicht nur ein Regionalproblem Europas. Der Angriff auf die freie, offene internationale Ordnung stellt ein globales Problem dar.
 

Klaus Geiger: Wird das in Deutschland schon ausreichend gesehen?
S.E. Hidenao Yanagi: Ja, ich glaube schon. Der Bundeskanzler versteht das. Er hat zuletzt in seiner Regierungserklärung am 22. Juni explizit das Ostchinesische Meer erwähnt und sehr klargemacht, dass er die Lage in Ostasien im Blick hat.
 

Klaus Geiger: Müssten Europa und die Demokratien im Indopazifik dann nicht auch stärker bei der Verteidigung kooperieren?
S.E. Hidenao Yanagi: Wir stehen hier am Anfang, aber Deutschland vertieft sein Engagement im Indopazifik. Vor zwei Jahren hat die Fregatte „Bayern“ in Japan angelegt. Vergangenes Jahr besuchten uns erstmals deutsche Kampfflugzeuge. Verteidigungsminister Boris Pistorius kam als erster deutscher Ressortchef seit 16 Jahren nach Japan. Die japanischen Luftverteidigungskräfte haben als einziges Nicht-Nato-Land am Air-Defender-Manöver der Nato teilgenommen. Beim Nato-Gipfel in Vilnius haben die AP4-Staaten teilgenommen, also Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan. Für konkrete Ergebnisse brauchen wir aber Zeit.
 

Klaus Geiger: Die drei Pfeiler von Freiheit und Demokratie weltweit sind Ostasien, Europa und Nordamerika. Wobei die USA die Schutzmacht sind. Was, wenn Donald Trump die nächste Wahl gewinnt und sich die USA in die Isolation zurückziehen?
S.E. Hidenao Yanagi: Der verstorbene japanische Premierminister Shinzo Abe hatte mit Donald Trump relativ gute Beziehungen. Man wird sehen müssen, wie es unter unserem jetzigen Premier sein wird. Wir sind nicht so pessimistisch.
 

Klaus Geiger: Die Sicherheit Japans und Europas hängt an der Qualität der Männerfreundschaften zwischen Donald Trump und den Regierungschefs?
S.E. Hidenao Yanagi: Natürlich hat Premierminister Abe eine große Rolle gespielt. Aber unabhängig von persönlichen Verbindungen: die Amerikaner haben ein großes strategisches Interesse. Der Indopazifik und China sind zentral für ihre Außenpolitik.
 

Klaus Geiger: Und es gibt keine Alternative zu den USA als Verbündetem.
S.E. Hidenao Yanagi: Nein. Natürlich sind die USA die einzige Militärmacht, die diesen Schutz für Asien und Europa gewährleisten kann. Das hat der russische Angriff auf die Ukraine deutlich gezeigt.
 

Klaus Geiger: Ist das der japanischen und deutschen Bevölkerung ausreichend bewusst?
S.E. Hidenao Yanagi: In Japan ja, in Deutschland weiß ich nicht genau, weil wir in der Trump-Zeit etwas schwierige Beziehungen gesehen haben.
 

Klaus Geiger: Sie nehmen mehr Anti-Amerikanismus in Deutschland wahr als in Japan?
S.E. Hidenao Yanagi: Sagen wir so: Das Abhängigkeitsbewusstsein ist in Deutschland weniger ausgeprägt. In Japan als direkte Nachbarn von Nordkorea, China und Russland sehen wir das Bündnis mit den USA als alternativlos.
 

Interview Klaus Geiger, „Die Welt“

Das Interview ist eine gekürzte Fassung des Gesprächs, das in der Tageszeitung „Die Welt“ am 13.7.2023 erschienen ist. Für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck danken wir dem Unternehmen Axel Springer SE.